Henriette Engbersen: «Medienbildung sollte in der Schule so selbstverständlich sein wie Sexualkunde»

Publiziert am 11. August 2021 von Matthias Zehnder

Die Fragebogeninterview-Sommerserie mit Schweizer Korrespondent:innen über ihre Mediennutzung – heute mit Henriette Engbersen, SRF-Fernsehkorrespondentin für Grossbritannien und Irland. Sie sagt, «gerade die Pandemie hat die Bedeutung von Journalismus erneut aufgezeigt.» Sie bezeichnet Fake News als «Gefahr für die Gesellschaft» und findet deshalb, Medienbildung mit Fokus auf Fact-Checking sollte selbstverständlich werden an den Schulen. Sie selbst blättert am liebsten in der gedruckten Zeitung, weil sie da immer wieder auf überraschende Themen stösst. Sie ist deshalb überzeugt, dass es professionellen Journalismus weiterhin braucht- Bloss in Sachen Geschäftsmodell brauche es «neue Ideen und Ansätze».

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Radio «BBC4» und eine Zeitung, entweder «The Times» oder «The Guardian».

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Ich bin auf Instagram und Twitter selber aktiv, Twitter ist darüber hinaus eine wichtige Quelle für politische Breaking-News und erste Reaktionen.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Ich konnte während der Pandemie keine Reportage-Reisen mehr unternehmen, alle Interviews fanden via Zoom statt. Damit habe ich ein zentrales Tool im Alltag als Journalistin verloren: Den direkten Kontakt. Bei direkten Treffen mit Politikern, Expertinnen oder der Bevölkerung erfahre ich wichtige zusätzliche Informationen, spüre ihre Emotionen und erhalte eine viel ehrlichere Meinung.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Ich mag die Sichtweise «früher war alles besser» nicht, in erster Linie war es anders. Die Inhalte sind heute vielfältiger, es sind neue Medien entstanden wie beispielsweise «Baba-News» oder das Onlinemagazin «Republik», welches jetzt erstmals schwarze Zahlen schreibt. Gleichzeitig sind Lokaljournalismus und gute, traditionelle Zeitungen schon länger finanziell in Not. Die Debatte über finanzielle Medienförderung finde ich enorm wichtig.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Wir schreiben weniger von Hand, dennoch schreiben wir heute mehr denn je, etwa via WhatsApp, SMS, Facebook, usw. Persönlich möchte als nächstes einen digitalen Stift ausprobieren, der meine handschriftlichen Notizen in den Computer überträgt.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Für die bedeutenden Bücher unserer Zeit gibt es prima Bestseller-Listen und Tipps in den Sonntagszeitungen von Menschen zusammengestellt, die mehr Ahnung haben als ich – dort inspiriere ich mich. Auf die Gefahr hin naiv zu wirken, nenne ich mein aktuell liebstes Kinderbuch (für Erwachsene), das eine solche Bestsellerliste anführt: «The Boy, the Mole, the Fox and the Horse» («Der Junge, der Maulwurf, der Fuchs und das Pferd») von Charlie Mackesy. Muss man nicht gelesen haben, tut aber gut.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Passiert selten. Viel schlimmer ist, dass ich einen riesigen Stapel von Büchern habe, die ich unbedingt lesen möchte und nicht dazu komme.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Da leisten die klassischen Medien einen hervorragenden Dienst. Wenn ich in der Zeitung blättere, am liebsten physisch, entdecke ich immer wieder Perlen. Kürzlich habe ich so erfahren, dass Strassennamen in Paris oftmals den Künstlern und Philosophen gewidmet sind, wie etwa «Boulevard Voltaire». In den Strassen Londons hingegen liest man eher die Namen von Royals und Generälen, wie «Wellington Street». Nicht weiter erstaunlich, wenn man genauer darüber nachdenkt, dennoch wäre ich selber nicht drauf gekommen, diesen Vergleich auszuwerten.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Im Hit von 1978 sang Bruce Wooley «Video Killed The Radio Star». 40 Jahre später erlebt das Medium Radio mit Podcasts einen Boom. Das «Rieplsche Gesetz» besagt ja, dass kein Medium je ganz verschwindet, sondern sich durch die Neuerungen verändert. Deshalb hoffe ich, dass die gedruckte Zeitung nie ganz verschwinden wird.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Es ist eine Gefahr für die Gesellschaft. Deshalb bin ich der Meinung, Medienbildung sollte in der Schule so selbstverständlich werden, wie es Sexualkunde ist. Inhalt könnte etwa «Fact-Checking» sein. Nur so können wir der Gefahr von «Fake News» entgegenwirken. Die Schweizer Initiative «Pumas» geht in diese Richtung, ich hoffe sie hat Erfolg.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Ich bin wohl sehr altmodisch, jeden Morgen höre ich ganz klassisch lineares Radio und als Journalistin schaue ich natürlich fast täglich den News Sender «BBC-News», auch das linear.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Beim Autofahren und Joggen höre ich alle möglichen Podcasts. Mein Lieblingspodcast zurzeit beim Joggen: «Verbrechen» von «Die Zeit».

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Ich habe vor kurzem einen 24-Jährigen kennengelernt, der seit Beginn der Pandemie täglich die Tagesschau schaut. Also ich bin gespannt, welchen Einfluss die Pandemie auf die Nutzung hat. Insgesamt ist das aber eine ungute Entwicklung. Optimistisch stimmen mich die neuen Formate für ein jüngeres Publikum, etwa bei SRF «We, Myself & Why».

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

In allen Branchen ist die künstliche Intelligenz und die Automatisierung auf dem Vormarsch, deshalb kann sich der Journalismus nicht davor verschliessen.

Aber ich glaube nicht, dass Roboter denkende und fühlende Journalisten ersetzen können. Beispiel «Pegasus» oder «Panama Papers»: Die Software findet in den Datensätzen Unregelmässigkeiten oder Muster. Doch es sind Journalist:innen, die daraus Schlüsse ziehen und folglich erklären, es handelt sich um Geldwäscherei oder Spionage.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Ich bin keine Pessimistin, deshalb sage ich die Digitalisierung verändert den Journalismus in erster Linie. Jeder kann heute publizieren, das macht die Inhalte vielfältiger. Gleichzeitig gibt es für aufwendige, investigative Inhalte weniger Geld. Also die Finanzierung von Qualitätsjournalismus ist sicherlich eine grosse Herausforderung.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ja, gerade die Pandemie hat die Bedeutung von Journalismus erneut aufgezeigt. Moderne Demokratien brauchen professionell betriebenen Journalismus, der hilft Meinungen zu bilden, der den Ungehörten eine Stimme verleiht, der staatliches Handeln hinterfragt. Das Geschäftsmodell Journalismus hat es künftig schwerer, das heisst es braucht neue Ideen und Ansätze.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Täglich, ich denke beim Schreiben. Die Stichworte für meine Live-Schaltungen schreibe ich vorher immer von Hand auf, sonst kommt’s nicht gut.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Wenn es nicht Trump gewesen wäre, wäre vermutlich ein anderer gekommen, der die Medienwelt so herausfordert. Es sind die digitalen Neuerungen, die neue Chancen aber auch Probleme schaffen. Ich finde, die sozialen Plattformen wie Twitter, Facebook, usw. sind in der Verantwortung. Darüber hinaus sehe ich wiederum eine besser Medienbildung als zwingend. Konsumentinnen und Konsumenten müssen verstehen, warum die Chancen auf Ausgewogenheit und Korrektheit bei journalistischen Quellen bedeutend höher sind als bei Twitter-Berühmtheiten.

Dein letztes Wort?

Chapeau und Danke allen die durchgehalten haben und diesen Text bis zum Ende gelesen haben, denn gemäss Medienforschung machen das nur gerade 15 Prozent.


Henriette Engbersen
Sie ist Niederländerin, arbeitet für das Schweizer Fernsehen und lebt in London: Henriette Engbersen ist seit 2017 TV-Korrespondentin von SRF für Grossbritannien und Irland. Engbersen hat 2006 einen Bachelor in Journalismus und Kommunikation an der ZHAW und 2016 einen Master of Arts in Design im Bereich Visuelle Kommunikation an der ZHdK erworben. In den Journalismus ist sie als freie Mitarbeiterin beim «St. Galler Tagblatt» eingestiegen. Danach arbeitete sie von 2006 bis 2008 als Videojournalistin bei Tele Ostschweiz. 2008 wechselte sie zu SRF und arbeitete fünf Jahre lang als Ostschweizer Korrespondentin für das Fernsehen. Ab 2014 arbeitete Henriette Engbersen als Redaktorin für die «Tagesschau», seit 2015 zusätzlich als Sonderkorrespondentin mit Auslandeinsätzen. In dieser Zeit hat sie sich auch im Bereich Datajournalism bei der englischen Zeitung «The Guardian» weitergebildet. 2017 trat sie in London die Nachfolge von Urs Gredig an.
https://www.srf.ch/news


Basel, 11. August 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar, den aktuellen «Medienmenschen» einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman:
www.matthiaszehnder.ch/abo/

 

6 Kommentare zu "Henriette Engbersen: «Medienbildung sollte in der Schule so selbstverständlich sein wie Sexualkunde»"

  1. Wieso nicht anstatt „Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?“ einmal fragen: „Wie lange gibt es – ob analog oder digital – noch sogenannte Leitmedien, die geil unterhaltsam aber total realitätsfern vor allem und nur berichten, was den gross Mächtigen und den schwer Reichen in ihren Kram passt?“

      1. Okay, nehmen wir einmal an, dass Mächtige und Reiche – nicht wie in andern Bereichen üblich – für die Medien keine grosse Rolle spielen, und es die Klicks sind, dann stelle ich krass formuliert fest: so beisst sich der Hund in den Schwanz. Mit mehrheitlich Medien, Politiker*innen, Wirtschaftler*innen und Wissenschaftler*innen sowie mit einer Bevölkerung, die gemäss ihrem Verhalten mehrheitlich als dumm, oder als obrigkeitshörig, oder als unkritisch, oder als nichts wissen wollend, oder als bequem, oder einfach nur als vergnügungssüchtig gesehen werden muss, ist der Turnaround nicht zu schaffen, den es dringend braucht. Ich hoffe, es werden schnell mehr, die sehen, dass es nur noch fundamental anders geht, und es auch tun! Medien, die nicht vor allem nach den Klicks derjenigen ticken, die es nicht wissen wollen, können und sollten dafür eine wichtige Rolle spielen.

        1. Da haben Sie natürlich recht. Medien könnten (im Sinne von Kant) das wichtigste Instrument der Aufklärung sein. Offensichtlich funktioniert das schlecht und das liegt möglicherweise nicht nur an den Medien. Warum das so ist, darüber denke ich in meinem nächsten Wochenkommentar nach.

  2. Ich mag die Sichtweise „früher war alles besser“ nicht, sagt Henriette Engbersen
    ….. aus.
    Ich hingegen schon. Heute reden zwar alle von Umweltschutz, FRÜHER wurde er (ganz unbemerkt und unprahlerisch) gelebt.
    Wieso müssen Briefmarken heute alle auf einem Trägerpapier vorgeleimt sein? Früher reichte ein (dünneres) Papier, nämlich das Papier der Briefmarke selbst. Befeuchten, auf den Brief, und ab die Post.
    Wieso muss heute im Tram (Bus, Zug) dauernd das Licht brennen? Früher brannte es am Tage nur bei der Durchfahrt der St. Jakobs-Unterführung, wurde danach sofort wieder abgestellt.
    Und warum ist heute jeder Rasierapparat ein Akkurasierapparat? Etwas anderes gibt es gar nicht mehr. Doch wenn ich vor dem Badezimmerspiegel steh, die Steckdose vor der Nase, brauch ich wirklich nichts mit Akku – das wiederum mehr Elektroschrott und aufwändigere Entsorgung nach sich zieht.
    Ok – ich war nie an der ZAHW. Und auch nicht an der ZHdK….. Und auch werde ich nächstens nicht einen digitalen Stift ausprobieren, der meine handschriftlichen Notizen in den Computer überträgt…..
    Wahrscheinlich liegt bei mir alles an dem….
    Damit kann man ja dann schreiben: «Widewidewitt, wir schreiben uns die Welt, wie sie uns gefällt»

    1. Früher…
      …wurden Abwässer ungeklärt in unsere Flüsse und Seen entsorgt.
      …hatten Autos keinerlei Abgasvorschriften.
      …durften Frauen nicht wählen und abstimmen.

      Ich glaube, früher oder später müssen wir einsehen, dass wir nur in einer Zeit leben können: in der Gegenwart. Damit diese Gegenwart eine Zukunft hat, sollten wir uns um sie kümmern 😉

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