Hansjörg Schertenleib: «Der ‹Tages-Anzeiger› liest sich heute schon, als sei er von Robotern geschrieben worden»

Publiziert am 1. Juli 2020 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – im Sommer mit Schweizer SchriftstellerInnen. Heute: Hansjörg Schertenleib. Er sagt, die in den grossen Newsrooms produzierten Mantelzeitungen seien «Einheitsbrei ohne Tiefe, ohne Profil, sprachlich oft schlampig geschrieben, unsorgfältig redigiert, korrigiert und produziert, entstanden ganz augenscheinlich unter grossem Druck, in grosser Eile, angelegt auf schnellen, oberflächlichen Konsum, der nichts hinterfragt, keine Fragen stellt.» Die Gesellschaft sei zu einer Masse geworden, «die sich nicht nur manipulieren lässt, sondern sich auch selbst manipuliert und dabei von Freiheit und Individualität faselt und zynischerweise dem Irrtum aufhockt, sie sei bestens informiert.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Wenn ich frühstücke, frühstücke ich – ohne zu lesen, auch nicht, wenn ich alleine am Tisch sitze. Frühstücken meine Frau Brigitte und ich gemeinsam, was zum Glück sehr oft der Fall ist, lesen wir ebenfalls nicht – wir reden. Meist läuft dazu SRF 3 – obwohl uns die dauerhaft gut-gelaunten Moderatorinnen und Moderatoren gelinde gesagt oft die gute Laune verderben. Und die Musik, na ja, ich bin ein alter Hippie und Hardrocker, der freien Jazz liebt…

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Ich halte nichts von sozialen Medien, dieser Meinungs-, Werbe- und Neidmaschine des Schwarms, die schnelle Vorurteile und Urteile generiert und in Köpfe einpflanzt, die Behauptungen, Halbwahrheiten und Lügen verbreitet, hetzt, denunziert, verdammt und keine Ambivalenz kennt, keine Grau- und Zwischentöne, nur schwarz oder weiss, ja oder nein.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Als Mensch, der sein Leben mit Literatur verbringt, erlaube ich mir, zuerst auf Bücher zu sprechen zu kommen: Da Bibliotheken wie Buchhandlungen geschlossen waren, habe ich endlich Bücher aus unserer sehr umfangreichen Bibliothek gelesen, denen ich, aus welchen Gründen auch immer, aus dem Weg gegangen bin – Klassiker, die ich seit Jahren lesen wollte, Romane, in die ich bislang nicht ein- und absteigen konnte. Was Medien wie digitale Newsportale, gedruckte Zeitungen, Radio und Fernsehen betrifft, habe ich nach wenigen Tagen dieser Krise begriffen, dass der Dauerbeschuss mit Informationen, die ja oft genug Halb- oder Viertel-Informationen sind, nicht hilft, sondern schadet. Also habe ich mich noch weniger im digitalen Raum bewegt, Tageszeitungen gar nicht mehr zur Hand genommen und nur noch sporadisch Nachrichten im Radio gehört oder im TV gesehen.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Es war anders und es war, zumindest was meine Lesebedürfnisse und Lesewünsche betrifft, besser! Allein in Luzern gab es drei Tageszeitungen mit unterschiedlicher Haltung, unterschiedlicher politischer Ausrichtung, welche die Welt und die Menschen aus anderen Blickwinkeln betrachteten und Themen unterschiedlich behandelten. Diese Vielfalt fehlt heute nahezu total. In St. Gallen ist man gezwungen, die gleichen Artikel wie im Aargau zu lesen, in Zürich wie in Basel, Bern oder Luzern. Interessant sind eigentlich nur noch die lokal recherchierten und geschriebenen Teile gedruckter Zeitungen. Die in grossen Newsrooms gemachten Bünde sind ein Einheitsbrei ohne Tiefe, ohne Profil, sprachlich oft schlampig geschrieben, unsorgfältig redigiert, korrigiert und produziert, entstanden ganz augenscheinlich unter grossem Druck, in grosser Eile, angelegt auf schnellen, oberflächlichen Konsum, der nichts hinterfragt, keine Fragen stellt. Wer dies nicht als Verlust wahrnimmt, tut mir leid.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Was für eine Frage an einen Schriftsteller! Für mich ganz bestimmt. Für viele Menschen allerdings hat das geschriebene Wort, in welcher Form auch immer, schon heute kaum oder gar keine Bedeutung.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Ich halte nichts von Lese-Befehlen. Die Liste der Bücher, die ich anderen Menschen wärmstens empfehlen könnte, ist jedoch lang, sehr, sehr lang. Ich gehöre übrigens zu den Menschen, die nach wie vor Bücher verschenken.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich lege Bücher, die mich nicht angehen, weil ich kein Feuer der Autorin oder des Autors spüre, keine Leidenschaft für Stoff und Figuren, Bücher, die ich für schlecht geschrieben halte, problemlos weg. Was soll ich meine Lebenszeit, die in meinem Fall auch Lesezeit ist, mit Büchern verplempern, die ich für überflüssig halte? Mittlerweile habe ich auch keine Probleme damit, Bücher, die mich ärgern, weil sie nichts anderes wollen, als sich dem Publikum an die Brust zu werfen und um jeden Preis in die Bestsellerliste drängen oder vom Feuilleton und von Preisjurys gelobt werden wollen, in den Abfalleimer zu werfen oder gar im Ofen zu verfeuern.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Von meiner Frau. Von Freunden. Von interessierten, interessanten Fremden. Aus Romanen. Aus Sachbüchern. Im Kino. Aus dem Radio. Von Menschen. Aus dem «New Yorker».

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Verlieren sie weiterhin derart rasant an Qualität, hoffentlich nicht mehr lange. Setzen sie dagegen erneut, welch frommer und törichter Wunsch, auf Meinungsvielfalt, Qualität, gerade auch in sprachlicher Hinsicht, hoffentlich noch sehr, sehr lange.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Eine Gefahr. Punkt. Zu wenige nehmen sich die Zeit, News, die bei Lichte betrachtet Meinungen und Vorurteile oder Urteile sind, in Frage zu stellen, zu überprüfen.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Fernsehnachrichten sehe ich mir regelmässig an. Radionachrichten höre ich jeden Tag mehrmals auf SRF. Und sonntags sehen wir uns den Tatort an. Immer.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Nein. Ich lese lieber. Mir muss man einen Stoff nicht «verkaufen», indem man ihn aufwendig «zubereitet».

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Diese Frage sollen sich die Medienschaffenden stellen. Jeden Tag. Und nachts ebenso.

Was es für die Gesellschaft bedeutet, wird uns täglich vorgeführt. Eine Masse, die sich nicht nur manipulieren lässt, sondern sich auch selbst manipuliert und dabei von Freiheit und Individualität faselt und zynischerweise dem Irrtum aufhockt, sie sei bestens informiert.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Wieso erstaunt mich diese Aussage des Tamedia-VR-Präsidenten nicht im mindesten? Der «Tages-Anzeiger» liest sich doch in weiten Teilen heute schon, als sei er von Robotern geschrieben worden. Sprachlich oft schwach und fehlerhaft, inhaltlich viel zu häufig dünn, nach Bestätigung und «likes» schielend, angepasst, lau, monoton.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Ich fürchte eher zum Tod der Medien – zumindest zu der Art Medien, die ich mir von Herzen wünsche – oder zurückwünsche. Aufgeklärt. Unbestechlich. Offen, also ohne Scheuklappen. Gedanklich scharf und klar. Sprachlich sorgfältig und mutig. Aufwendig recherchiert. Gut produziert. Medien, die mich fordern und herausfordern statt bevormunden und unterschätzen, die viel von mir verlangen statt wenig.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

In der Form, wie er sich heute präsentiert, nein, nicht für mich.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Sehr häufig ja. Mit Bleistift. Schwungvoll. Rhythmisch. Schnell. Und langsam, sehr langsam.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Da ihn viele als Sandsack sehen, an dem sie ihr Mütchen kühlen können, mag er gut sein für die «Journalisten». Für die Medien ist er schlecht. Und nicht nur für die Medien. Die amerikanischen Demokraten kennen ja leider auch nur ein Thema: Trump. Sie sitzen vor ihm wie das Kaninchen vor der Schlange. Gelähmt. Paralysiert. Unfähig, zu agieren, nur bereit, zu reagieren. Ich für meinen Teil kann sein Gesicht nicht mehr sehen. Weder in digitalen noch in gedruckten Zeitungen.

Wem glaubst Du?

Meiner Frau. Freunden. Interessierten, interessanten emphatischen Fremden. Guten Büchern. Guten Filmen. Miles Davis. Bob Dylan. Patti Smith. Sam Shepard.

Dein letztes Wort?

Lass Dir nicht auf die Kappe scheissen. Von keinem. Nie.


Hansjörg Schertenleib

Hansjörg Schertenleib, geb. 1957 in Zürich. Bleisetzer und Typograph. Seit 1981 freier Schriftsteller; publizierte zwölf Romane, fünf Erzähl- und zwei Gedichtbände, die oft ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt wurden. Arbeitete auch journalistisch, u. a. für die «Weltwoche», den «Tages-Anzeiger», «Magma», «Die Welt» etc. und als Produzent für die «SonntagsZeitung». Lebte 22 Jahre in Irland, vier Jahre in Maine und seit diesem Jahr die Hälfte des Jahres im Burgund.
www.shertov.com

«Palast der Stille»

«Mit wem reden wir, wenn wir allein sind? Mit uns selbst, wenn wir es können.» Hansjörg Schertenleib erzählt von den Segnungen der Stille, selbst gewählter Einsamkeit und von der Liebe, der Liebe zu den Tieren, zur Natur – und zu den Büchern.
«Palast der Stille» spielt auf einer Insel vor der Ostküste Amerikas, mitten im Winter. Ein Mann schaufelt Schnee, redet mit seiner Katze, beobachtet Vögel und zieht Bilanz über sein bisheriges Leben. Dann macht er sich auf den Weg durch den tief verschneiten Wald zu der Kiefer, in deren Krone er einen Ausguck hat. Von da aus schaut er in die Welt, die Natur – und sich selbst.

Hansjörg Schertenleib: Palast der Stille. Kampa Verlag, 176 Seiten, 25.50 Franken; ISBN 978-3-311-21013-9
Hier erhältlich: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783311210139


Basel, 1. Juli 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Foto: © David Clough: Kampa Verlag, Zürich

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