Gisela Widmer: «Redaktionen sind Kuratoren des Weltgeschehens»
Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute: Autorin und Kolumnistin Gisela Widmer. Sie habe das «goldene Zeitalter des Journalismus» in den 80er und 90er Jahren miterlebt. Sie sei «einfach nur glücklich, dass ich in jener Zeit journalistisch arbeiten durfte. Die Gnade der frühen Geburt sozusagen.» Heute werde der Kreis jener, die «noch lesen wollen – und eines Tages überhaupt noch lesen können –immer kleiner». Problematisch sei zudem dass «zunehmend jeder sein eigener Journalist ist, sein eigener Kommentator».
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
«NZZ», «Tages-Anzeiger», …Luzerner Zeitung», «BBC News». Tagsüber höre ich die News- und Hintergrundsendungen von Radio SRF. Meist das «Rendez-vous am Mittag», das «Tagesgespräch» und das «Echo der Zeit».
Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?
Ich bin nur auf Facebook.
Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?
Mein Medienkonsum ist noch etwas intensiver geworden. Ein paarmal schaute ich sogar die Tagesschau.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
Tatsächlich gab es das goldene Zeitalter des Journalismus. In den 80er und 90er Jahren. Damals wurden sogar neue Quality Papers gegründet. Der «Standard» in Wien beispielsweise oder «The Independent» in London. Ich bin einfach nur glücklich, dass ich in jener Zeit journalistisch arbeiten durfte. Die Gnade der frühen Geburt sozusagen.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Die Worte schon. Aber der Kreis jener, die sie noch lesen wollen – und eines Tages überhaupt noch lesen können – wird immer kleiner.
Was muss man unbedingt gelesen haben?
Sehr, sehr vieles. Leute, die nie erfahren, was Bücher und Theaterstücke können, verpassen einen wesentlichen Teil des Lebens. So widersprüchlich das klingen mag.
Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Zunehmend lege ich schlechte Bücher weg. Ich habe nicht noch einmal 50 Jahre Zeit um zu lesen.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
In den Qualitätsmedien. Die Redaktionen sind eigentliche Kuratoren des Weltgeschehens. Ohne diese Kuratoren würde ich mich nur immer in meinem eigenen Stichwort-Tümpel bewegen.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Weiss ich nicht. Ich lese seit Jahren nur noch die (abonnierten) Online-Ausgaben.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Sie sind für die Zukunft der Menschheit insgesamt eine Gefahr. Die seriösen Medien können die Fake News-Gläubigen immer weniger erreichen.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Fast nie linear.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Ich lese lieber.
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?
Wenn uns die Demokratie und vor allem die direkte Demokratie wichtig sind, müssen wir sehr besorgt sein.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Dream on, honey! (Hängt natürlich davon ab, was genau Herr Supino unter einem «Artikel» versteht.)
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Die Digitalisierung als solche ist nicht das Problem. Problematisch ist, dass zunehmend jeder sein eigener Journalist ist, sein eigener Kommentator etc. und dank den digitalen Kanälen ein Publikum findet, das verlernt hat zu überprüfen, ob das Elaborat journalistischen Kriterien standhält.
Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?
Ohne Geld gibt es keinen professionellen Journalismus. Dazu braucht es ein Publikum, das begreift: Informationen, wenn sie denn stimmen sollen, sind nicht gratis zu haben. Ich hoffe darum, dass es wenigstens das gebührenfinanzierte Radio noch lange gibt.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Selten.
Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Nicht einfach nur für die Medien. Trump ist vor allem schlecht für die Menschheit. Für den Planeten. Für die Demokratien. Etc.
Wem glaubst Du?
Einem Durchschnitt verschiedener verifizierter Quellen. Dann «glaube» ich nicht mehr, sondern «weiss» bestmöglich.
Dein letztes Wort?
Schön gsi!
Gisela Widmer
Gisela Widmer (*1958) ist einem breiteren Publikum als ehemalige Grossbritannien-Korrespondentin von Radio DRS und als bissige Kolumnistin der Satire-Sendung Zytlupe bekannt. Sie war aber auch Hausautorin am damaligen Stadttheater Luzern. Heute lebt Gisela Widmer in Luzern und arbeitet als freischaffende Autorin für Profi- und Laienbühnen. Die Fachzeitschrift «Schweizer Journalist» ehrte Gisela Widmer mehrere Male als «Die beste Kolumnistin des Landes». An der Schweizer Journalistenschule MAZ unterrichtet sie Schreiben.
http://www.giselawidmer.ch/
Basel, 28. Oktober 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar, den aktuellen «Medienmenschen» einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman. Einfach hier klicken. Videos dazu gibt es auf meinem Youtube-Kanal.
3 Kommentare zu "Gisela Widmer: «Redaktionen sind Kuratoren des Weltgeschehens»"
Langsam leiert sich die Frage:
„Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?“ aus.
Und die Antworten darauf sind oftmals unterirdisch – z.B. heute im aktuellen Wochen-Angebots-Antworten-Strauss: „Schlecht für die Demokratien (… es ist ja so, dass laut Ringier und Springer-Umfragen Friedens(b)engel Владимир Владимирович Путин (Wladimir Wladimirowitsch Putin) höher in der Gunst der West-Europäer steht = ….Dekandenz hoch 5…..); schlecht für den Planeten (jetzt wird’s sogar noch intergalaktisch….); und schlecht für die Menschheit (mal schauen, ob das die 40% Trump-Wähler in den USA, also jene die es direkt betrifft – und nicht die vom CH-Lehnstuhl-Beobachtenden auch so sehen….).
So oder So.
Wenn „China/Sleepy-Joe B.“, wie er von Trump genannt wird, „winner“ wird – hat sich die Frage wohl erledigt; wenn „Deranged Donald“, wie Trump von den Demokraten genannt wird, doch noch „better“ ist – müsste man wohl fragetechnisch über die Bücher….
Die spannendste aller Wahlen wird uns bald die Antwort schenken – ich geb mir mühe – neutral formuliert: So oder so….
Lieber Herr Zweidler
Nein, die Frage leiert nicht aus. Auch Menschen (wie viele Republikaner), die mit den Positionen von Donald Trump einverstanden sind, warnen mittlerweile vor den Konsequenzen, die sein Verhalten den Medien und der Wahrheit gegenüber hat. Wer in einer Demokratie den Gegner systematisch diffamiert, kritische Medien oder Medien mit anderer Meinung konsequent als «fake Media» bezeichnet und jetzt schon behauptet, die Briefwahl führe zu Wahlfälschungen, eine Niederlage nicht unbedingt akzeptieren will, extremistische Kräfte nicht verurteilt etc. , der beschädigt die Demokratie und die Medien so nachhaltig, dass die Frage weiterhin ihren Sinn hat. Möglicherweise wird sie ab der neuen Amtsperiode einfach in der Vergangenheitsform gestellt.
Hallo Frau Widmer, Ihr Kommentar im Bund vom 5.2.21
Ist sehr gut! Finde auch dass sonst „extrem links stehende Frauen/Personen“ sich unbedingt für das Burka Verbot einsetzen müssten! Man kann hier nicht für Frauenrechte einstehen und dabei diese Frauen vergessen, die sich leider gezwungen sehen sich ihren Männern und Traditionen zu unterstellen – dabei keine Chancen haben selber zu entscheiden! Danke!