Gaston Haas: «Fake News wirken als Gift, das in unsere Köpfe und Herzen sickert»

Publiziert am 15. November 2023 von Matthias Zehnder

Das 255. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Gaston Haas, Chefredaktor der «Hotelrevue». Er sagt, Medien seien immer auch ein Spiegel gesellschaftlicher Befindlichkeiten. «Unsere Sehgewohnheiten haben sich in den vergangenen Jahrzehnten fundamental verändert.» Onlineticker, YouTube und andere digitale Medien geben das Tempo vor. «Deshalb sind Zeitungs- oder TV-Beiträge aus früheren Jahrzehnten bestenfalls als historische Quellen konsumierbar.» Gedruckten Zeitungen gibt er nicht mehr lange: «Ein paar Fachtitel mögen überleben oder gar zulegen, aber für viele Printtitel naht das Ende.» Keine Sorgen macht er sich um die Informiertheit junger Menschen: «Meine Generation, die der Boomer, erlebte den Aufstieg des Fernsehens, die hohe Zeit des Prints und die Geburt der sozialen Medien – keine Generation vor uns hatte derart einfach Zugang zu derart vielen Informationen. Und was haben wir mit all dem Wissen angestellt? – Eben.» In Fake News dagegen sieht er eine Gefahr: «Manche diese ‹Informationen› wirken als Gift, das in unsere Köpfe und Herzen sickert und unser Denken und Handeln beeinflusst. Es zersetzt Überzeugungen, verätzt gesellschaftliche Konventionen, verunmöglicht den Dialog, verhärtet die Herzen und verklebt den Verstand.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Frühstück? Wenn ich zu Hause bin, trinke ich mit meiner Frau Kaffee, bevor ich mich in den Pendlerstrom stürze. Im Zug gibts dann meist die News auf «blick.ch», «watson.ch» und «spiegel.de».

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram, YouTube, TikTok und BeReal?

Regelmässig unterwegs bin ich auf LinkedIn; hie und da besuche ich YouTube, selten nur Facebook. Twitter/X ist seit der Übernahme unappetitlich, für den Rest habe ich keine Zeit.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Ich konsumiere Medien heute nicht anders als Anfang 2020. Der grosse Unterschied macht aber sicher Teams, das ich vor der Pandemie nicht genutzt habe. Heute sind Videocalls Alltag.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Ach – weder noch. Die Medien sind immer auch ein Spiegel gesellschaftlicher Befindlichkeiten. Vor einiger Zeit wollte ich mit unserer Tochter «Once Upon a Time in the West» schauen. Sie hat den Film keine fünf Minuten ausgehalten. Und ich ehrlicherweise auch nicht (mehr) viel länger. Unsere Sehgewohnheiten haben sich in den vergangenen Jahrzehnten fundamental verändert. Das Gleiche gilt für Radio, Fernsehen oder gedruckte Medien. Onlineticker, YouTube und andere digitale Medien geben das Tempo vor. Deshalb sind Zeitungs- oder TV-Beiträge aus früheren Jahrzehnten bestenfalls als historische Quellen konsumierbar.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Selbstverständlich. Die Schrift wird unser wichtigstes Kommunikationstool bleiben, wenn wir uns nicht grad atomar oder sonst wie aus unserer eigenen Geschichte katapultieren. Allfällige Überlebende dürften sich dann wohl wieder am Lagerfeuer mündlich austauschen. Bis jemand auf die Idee kommt, mit Kohle auf einer Felswand … – aber das hatten wir ja bereits.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Wir haben uns zu Hause vor Jahren auf einige wenige Laufmeter Bücherregal beschränkt. Die sind längst zugestellt. Wenn ich ein neues Buch behalten möchten, muss ich eines weggeben. So ist über die Zeit eine sehr persönliche Bibliothek zusammengekommen. Da stehen etwa Simenon neben Nial Ferguson, Kästner neben Nicolas Bouvier, Eric Orsenna neben Christian Morgenstern, Ovids Metamorphosen neben einer Stalin-Biografie. Ergo: Unsere Interessen und unsere Lust an Themen sollten bestimmen, was wir lesen. Nichts und niemand sonst.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Mit Büchern bin ich geduldiger als mit Menschen. Sehr oft spielt meine Gemütslage eine Rolle. Wenn ich nicht dranbleibe, lege ich sie zur Seite. Packt mich der Gwunder später wieder, gebe ich dem Buch eine neue Chance. Funkt es wieder nicht zwischen uns, müssen sie weiterziehen, meist ins Brockenhaus. Was gar nicht geht, ist wegwerfen. Das habe ich erst einmal mit einem Buch gemacht: «American Psycho» von Bret Easton Ellis finde ich unerträglich. Ich habe es rituell dem Abfallkübel übergeben.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Fast überall, im richtigen wie im digitalen Leben: auf YouTube, im Zug oder Tram, im Gespräch mit Frau und Tochter, mit Freunden, Bekannten und Fremden. Bei der Arbeit oder in Büchern. Beim Lesen habe ich oft das Handy neben mir liegen und google Personen oder Ereignisse, die ich nicht kenne. William Boyds Bücher sind in dieser Hinsicht ein Geschenk.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Ich kann nicht in die Zukunft schauen. Mit dem feuchten Finger im Wind würde ich behaupten: noch eine ganze Weile, aber mit abnehmender Tendenz. Schliesslich sterben die Abonnenten langsam weg, die mit diesem Medium aufgewachsen sind. Und die Jungen holen sich ihre Informationen anderswo. Ein paar Fachtitel mögen überleben oder gar zulegen, aber für viele Printtitel naht das Ende. RIP, ihr Lieben.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Wie soll ich «Chance für die Medien» interpretieren? Wirtschaftlich sind Fake News für die Verlage, die Sender interessant. Sie generieren Auflage und Klicks, Klicks, Klicks. Politisch, gesellschaftlich, psychologisch und ethisch oszillieren Fake News irgendwo zwischen verwirrend, abstossend und gefährlich. Manche diese «Informationen» wirken als Gift, das in unsere Köpfe und Herzen sickert und unser Denken und Handeln beeinflusst. Es zersetzt Überzeugungen, verätzt gesellschaftliche Konventionen, verunmöglicht den Dialog, verhärtet die Herzen und verklebt den Verstand. Die USA seit Trump sind ein anderes Land als zuvor.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Ich rede, lese und schreibe vom Morgen bis zum Abend, da liegt Radiohören nicht mehr drin. Am Fernseher schaue ich fast nur Sportübertragungen.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Podcasts höre ich selten. Wenn ich mal etwas Zeit für mich habe, ziehe ich echte Begegnungen vor oder die Stille. Einen Lieblingspodcast habe ich aber trotzdem, weil ich Teil davon bin. In «Weinfach» degustiere ich einmal im Monat mit einer Radiomoderatorin und einer Weinexpertin oder einem Weinexperten Weine. Dabei darf ich die Rolle des Advocatus Diaboli einnehmen und (fast) alles sagen. Das macht mir grosse Freude.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Ach, die Jugend, was die schon seit Jahrtausenden alles falsch macht … – Ich kenne viele junge Menschen, die sehr wohl wissen, was da draussen vor sich geht. Sie holen sich ihre Informationen halt anderswo als wir Älteren. Hinzufügen möchte ich: Meine Generation, die der Boomer, erlebte den Aufstieg des Fernsehens, die hohe Zeit des Prints und die Geburt der sozialen Medien – keine Generation vor uns hatte derart einfach Zugang zu derart vielen Informationen. Und was haben wir mit all dem Wissen angestellt? – Eben.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Natürlich lässt sich Journalismus automatisieren: Sport, Wetter, Börsenberichte, Abstimmungsergebnisse werden schon länger von Maschinen erzeugt. Journalisten nutzen ChatGPT als mächtiges Recherchetool. Der Algorithmus schreibt Artikel, macht Vorschläge für Titel und Lead, fasst Beiträge zusammen, erstellt Bullet Lists, alles in fast jeder gewünschten Tonalität oder Sprache und in wenigen Augenblicken. Das Formulieren des Auftrags dauert einiges länger als das Redigieren des maschinellen Resultats. Es wäre fatal zu glauben, die Sache sei in wenigen Jahren gegessen. KI ist so gross, dass selbst die Besten von uns die Konsequenzen nur im Ansatz erfassen.

Gewisse Gattungen sind da vorerst noch auf der sicheren Seite: Die Reportage aus dem Krisengebiet, die Glosse oder die ganz persönliche Kolumne wird eine Maschine noch eine ganze Weile nicht hinbekommen. Wobei, wer weiss …

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Die Digitalisierung hat die Entstehung vieler Medien erst ermöglicht. Und wovor oder von wem soll der Journalismus befreit werden? Diese Frage überfordert mich.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Nein.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ich führe Tagebuch. Sehr unregelmässig zwar, aber wenn, dann schreibe ich von Hand. Ich habe auf Ebay einen Kolbenfüllfederhalter aus den 1960er-Jahren gefunden. Das Teil beschert mir regelmässig blaue Flecken an den Fingern, aber ich liebe meinen Pelikan heiss. Genauso wie den silbernen Kugelschreiber von Caran d’Ache. Ausserdem bin ich ein Bleistift-Fetischist.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Für die Medien war/ist der Mann ein Geschenk. Als egomane Lügenschleuder ist er eine Katastrophe für die Gesellschaft (vgl. oben die Frage zu Fake News).

Wem glaubst Du?

Mit dem Glauben habe ich es nicht so, aber es gibt Menschen, denen ich vertraue.

Dein letztes Wort?

Bye.

Gaston Haas

Gaston Haas hat an der Universität Zürich Geschichte und Germanistik studiert. Als Werkstudent ist er eher zufällig in die Medien geraten und mäandert seitdem zwischen Verlagen, Radio und Kommunikationsagenturen. Aktuell ist er Chefredaktor der «Hotelrevue». Er lebt mit seiner Familie am Zürichsee.

https://www.htr.ch/home

Basel, 15. November 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Seit Ende 2018 sind über 250 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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Ein Kommentar zu "Gaston Haas: «Fake News wirken als Gift, das in unsere Köpfe und Herzen sickert»"

  1. «Manche diese ‹Informationen› wirken als Gift, das in unsere Köpfe und Herzen sickert und unser Denken und Handeln beeinflusst. Es zersetzt Überzeugungen, verätzt gesellschaftliche Konventionen, verunmöglicht den Dialog, verhärtet die Herzen und verklebt den Verstand.» Dieses Zitat ist – leider – überaus treffend und beschreibt die toxische Wirkung von Fakes auf grossartige Weise.

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