Flavia von Gunten: «In Sachen Diversität und Arbeitsklima muss sich noch viel verbessern»

Publiziert am 17. März 2021 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Flavia von Gunten, Redaktorin bei der «Berner Zeitung» und Vorstandsmitglied des Vereins Junge Journalistinnen und Journalisten Schweiz. Sie sagt, immerhin sei der Frauenanteil in den Redaktionen gestiegen. Sie fordert, Medien müssten «für Vielfalt in den Redaktionen sorgen». Konkret: «junge Menschen einstellen, ihnen Verantwortung übertragen und sie experimentieren lassen.» Auf die Frage, wie lange es noch gedruckte Tageszeitungen gebe, sagt sie: «Das kann ich schlecht abschätzen. Relevanter scheint mir die Frage, wie man es schafft, langfristig für Vielfalt in der Medienlandschaft zu sorgen.» Ob der dann digital oder analog stattfinde, das sei «zweitrangig».

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Die gedruckte «Berner Zeitung». Dazu digital das Briefing der «NZZ» und der Newsletter der «Republik». Und donnerstags die «WOZ», ebenfalls auf Papier.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Alle drei verwende ich im Rahmen meiner Tätigkeit als Vorstandsmitglied des Vereins Junge Journalistinnen und Journalisten Schweiz (JJS). Privat habe ich Konten auf allen Plattformen, nutze sie aber vor allem passiv: mehr lesen, denn selbst Beiträge veröffentlichen.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Ehrlich gesagt, erinnere ich mich nur diffus an meinen Medienkonsum vor Corona. Ich glaube aber, dass dieser dem heutigen sehr ähnlich ist. Vielleicht greife ich aktuell öfter und bewusster zu fiktionalen Büchern.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Das «Früher», das ich selber erlebt habe, liegt nicht sehr lange zurück; über Vorvergangenes kann ich daher nur aufgrund von Berichten urteilen. Dass mehr Budget zur Verfügung stand, längere Recherchen möglich waren und es mehr Stellen gab, sind sicher beneidenswerte Aspekte der Vergangenheit. Allerdings schätze ich zum Beispiel das Internet als Vernetzungs- und Rechercheinstrument. Und ganz wichtig: der Frauenanteil in den Redaktionen ist gestiegen. Wobei sich in Sachen Diversität und Arbeitsklima noch viel verbessern muss. Bei JJS werden wir dem Thema der psychischen Gesundheit in diesem Jahr mehrere Veranstaltungen widmen. Nur wenn wir darüber sprechen, kann sich was verändern.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Unbedingt! Sie sind eine effiziente Art, um Informationen präzise zu übermitteln. Und wer möchte schon freiwillig auf ein solch wertvolles Mittel verzichten, das zuverlässig Gefühle auslöst und zu Gedankenreisen anregt?

Was soll man heute unbedingt lesen?

Alle Bücher von Benedict Wells. Sie erfüllen die für mich wichtigsten zwei Funktionen von Literatur: Sie sensibilisieren für Lebensentwürfe, die vom eigenen abweichen, und formulieren treffend Gedanken, die man vorher nur vage im Gehirn rumgetragen hat. Die Chance, auf Texte zu treffen, die beide Funktionen bedienen (mal abgesehen von jenen von Wells), ist am grössten, wenn man möglichst divers liest. Inspiration liefert zum Beispiel die Plattform «Die Kanon». Tolle Autorinnen wie Sibylle Berg und Simone Meier haben dort Berufskolleginnen aufgelistet, die in herkömmlichen Kanons nicht auftauchen – weil sie Frauen sind.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Schonungslos lege ich Bücher weg, die mich nicht überzeugen.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Wichtiger als das «Wo» finde ich das «Wie»: indem ich lese, zuhöre und aufmerksam bin. Der Ort spielt dann keine grosse Rolle mehr.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Das kann ich schlecht abschätzen. Relevanter scheint mir die Frage, wie man es schafft, langfristig für Vielfalt in der Medienlandschaft zu sorgen. Gerade auf der Ebene des Lokaljournalismus. Ob der dann digital oder analog stattfindet, ist zweitrangig.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Ich finde den Begriff etwas überstrapaziert und ausgefranst. Gezielter Einsatz von falschen Informationen mit dem Ziel, Menschen zu manipulieren, ist eine Gefahr. Wenn hingegen ein Medium unbewusst eine Falschinformation publiziert, ist das je nach Fall ärgerlich bis verheerend, meiner Meinung nach aber ein Malheur, das unvermeidbar und vor allem keine neue Erscheinung der letzten Jahre ist. Wichtig ist die Reaktion darauf: den Fehler deklarieren und in Zukunft noch sorgfältiger hinschauen und recherchieren.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Mit der Ausnahme von gewissen Sportereignissen wie Übertragungen von Spielen meines Lieblingsclubs HC Davos und Olympischen Spielen ist mein linearer Konsum quasi inexistent. Auf der «Play SRF»-App schaue ich aber regelmässig Sendungen wie die Sternstunde Philosophie oder das «10vor10».

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Podcasts höre ich vor allem auf Spaziergängen, da ich in unbewegtem Zustand geschriebene Texte bevorzuge. Meine liebsten Podcasts (bzw. aufgezeichnete Radiosendungen) sind: «Zeit: Alles Gesagt?», SRF «News Plus», «Beziehungskosmos» sowie «Kultur kompakt», «Kontext» und «52 Beste Bücher» von SRF.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Für die Medien bedeutet das, dass sie für Vielfalt in den Redaktionen sorgen müssen. Konkret: junge Menschen – die dieser Zielgruppe nahestehen – einstellen, ihnen Verantwortung übertragen und sie experimentieren lassen. Für die Gesellschaft wäre es wünschenswert, wenn diese Zahl kleiner wäre. Denn eine Demokratie ist auf informierte Bürgerinnen und Bürger angewiesen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Zusammenfassungen von Resultaten, etwa von Sportveranstaltungen oder Wahlen und Abstimmungen, bestimmt. Der Rest nicht.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Was soll das sein, die Befreiung des Journalismus? Zum Tod führt sie meines Erachtens nicht, da es genügend kreative Menschen gibt, welche sie gekonnt einsetzen, um den Journalismus den sich stets wandelnden Bedürfnissen der Konsument:innen anzupassen.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

In diesem Semester besuche ich eine Vorlesung zum Medienrecht. Dort lernte ich, dass der EGMR den Medien die Rolle als «Public Watchdog» zuschreibt. Das heisst: Die Journalist:innen schauen Politik und Wirtschaft auf die Finger und machen allfällige rechtswidrige Machenschaften publik. Schon allein dieser wichtigen Aufgabe wegen gibt es eine Zukunft für professionellen Journalismus.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Täglich. Agenda, Notizbuch, Uni-Mitschriften, Einkaufszettel, Geburikarten, Briefe – alles auf Papier, am liebsten mit Tinte.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Ich kann mir keinen Bereich vorstellen, den Trump in eine positive Richtung entwickelt hat.

Wem glaubst Du?

Meinem Bauchgefühl.

Dein letztes Wort?

The pen is mightier than the sword. (Edward Bulwer-Lytton)


Flavia von Gunten
Flavia von Gunten ist angestellt als Redaktorin bei der Berner Zeitung. Ab und zu schreibt sie Texte für andere Medien, darunter die Republik und die NZZ. Sie studiert Jus und arbeitet als Hilfsassistentin am Institut für öffentliches Recht an der Universität Bern. Beim Verein Junge Journalistinnen und Journalisten Schweiz ist sie Mitglied im Vorstand.
https://www.jjs.ch/


Basel, 17. März 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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