Fabienne Kinzelmann: «Die Ära der sozialen Medien, wie wir sie kennen, neigt sich dem Ende zu»

Publiziert am 14. Februar 2024 von Matthias Zehnder

Das 268. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Fabienne Kinzelmann, Redaktorin für Internationale Wirtschaft & Internationale Korrespondentin bei der «Handelszeitung». Sie sagt, die sozialen Medien seien nicht mehr sozial: «Statt uns breit zu vernetzen, ziehen wir uns in Echokammern zurück.» Die neue Norm sei «geschlossene Gruppen; die öffentliche Debatte wird auf den Plattformen von extremen Polen bedient». Das gilt, zum Beispiel im Umgang mit Donald Trump, auch für die klassischen Medien: «Statt fundierter Einordnung haben Newsrooms überall auf der Welt nur allzu gerne die Aufreger, die News, die Klicks mitgenommen, die er uns im Dauerakkord geliefert hat.» Davon abgesehen sieht Kinzelmann für die klassischen Medien gar nicht mal so schwarz. So habe «die Qualität trotz des Abbaus von journalistischen Stellen und Instanzen vielerorts zugenommen», sagt sie. Für «selektierte, hochwertig aufbereitete und geprüfte Nachrichten, Berichte, Meinungsstücke und Reportagen in kompakter Form zu festen Zeiten» gebe es «hoffentlich» noch lange ein Bedürfnis, bloss «gedruckt müssten Zeitungen von mir aus nicht mehr sein». In der «Talentkrise» sieht sie allerdings «eine der aktuell grössten Herausforderungen für die Medienbranche».

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Das Format – selektierte, hochwertig aufbereitete und geprüfte Nachrichten, Berichte, Meinungsstücke und Reportagen in kompakter Form zu festen Zeiten – hoffentlich noch lange, aber gedruckt müssten Zeitungen von mir aus nicht mehr sein.

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Deutschlandfunk! Machen mein Mann und ich noch vor dem Teekocher an.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram, YouTube, TikTok und BeReal?

Ich würde noch Linkedin ergänzen und nutze all diese Netzwerke unterschiedlich intensiv und viel weniger (und weniger gern) als früher. Das liegt nicht nur an Musks Algorithmus-Eskapaden, die mir Twitter als unverzichtbares Arbeitsinstrument verleiden, sondern auch an einem grundsätzlichen Nutzungswandel. Die Ära der sozialen Medien, wie wir sie kennen, neigt sich dem Ende zu: Professionelle Content Creators dominieren über private Inhalte, die Algorithmen halten uns in Echtzeit über Sehgewohnheiten statt persönlichen Verbindungen bei der Stange und statt uns breit zu vernetzen, ziehen wir uns in Echokammern zurück. Die neue Norm sind geschlossene Gruppen; die öffentliche Debatte wird auf den Plattformen von extremen Polen und mehrheitlich weissen Männern bedient. Diese Fragmentierung ist keine Kleinigkeit, sondern bedroht den Journalismus und demokratische Systeme. Lesenswert dazu ist die aktuelle Titelgeschichte des «Economist».

Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?

Ich höre viel mehr Radio und Podcast und lese mehr am Smartphone und iPad als am Desktop.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Paradox ist, dass die Qualität trotz des Abbaus von journalistischen Stellen und Instanzen vielerorts zugenommen hat. Und die Schweiz ist im Vergleich mit anderen westlichen Ländern noch eine kleine Insel. Der Verlust von Medien-Vielfalt und insbesondere Lokalnachrichten schreitet aber auch hier voran und hat dramatische Folgen. Dazu kommt die Talentkrise als eine der aktuell grössten Herausforderungen für die Medienbranche. Das werden wir in ein paar Jahren noch mehr spüren, wenn wir jetzt nicht gegensteuern.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Sicher. Die Frage ist, in welcher Form.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Den «Sonntagsökonom» in der FAS. Paul Krugmans NYT-Kolumne. Den Newsletter «Axios AI+» von Ina Fried. Anne-Kathrin Gerstlauers Newsletter «TextHacks».

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Kann ich problemlos weglegen. Oder ich lese sie schnell quer. Zuletzt einen furchtbar langweiligen Pandemie-Krimi von Louise Penny.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Im Gespräch mit Menschen, die beruflich etwas völlig anderes machen als ich. Neulich mit einem kanadischen Neurowissenschaftler. Wir sprachen unter anderem über AI und den Mythos Multitasking. Am Ende landeten wir bei Telomeren. Das sind Schutzkappen auf unseren Chromosomen, die eng mit unserem Alterungsprozess zusammenhängen. Hatte ich vorher noch nie gehört.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Das Format – selektierte, hochwertig aufbereitete und geprüfte Nachrichten, Berichte, Meinungsstücke und Reportagen in kompakter Form zu festen Zeiten – hoffentlich noch lange, aber gedruckt müssten Zeitungen von mir aus nicht mehr sein.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Was demokratische Systeme unterminiert, kann für deren Bestandteile nicht gut sein.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

TV nie, Radio immer.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ja, ich suche oft spezifisch nach Folgen, wenn ich mich neu in ein Thema reinarbeite. In Podcasts sprechen Expertinnen und Experten oft ausführlicher und offener.

Ansonsten regelmässig: «The Daily» (NYT) / «Post Reports» (The Washington Post), «Monocle on Sunday» (da bin ich auch manchmal selbst zu hören), «The 80’000 Hours Podcast», «Work Work Work» von Sara Weber, «After Hours» von Harvard-Professor Felix Oberholzer-Gee, «Servus. Grüezi. Hallo.» aus der «Zeit»-Redaktion.
Hervorragend fand ich im vergangenen Jahr ausserdem drei mehrteilige Serien:

  • «Klimahandel» (SRF) über die Schweizer Firma South Pole, den weltweit grössten Player im Klimazertifikate-Milliardenmarkt.
  • «Tatort Kunst» (DLF) behandelt True-Crime-Fälle aus dem Kunstmarkt, über den ich vorher wirklich wenig wusste.
  • «Boys Club» (Spotify) arbeitet die Reichelt-Affäre auf und ordnet das Ausnutzen von Grauzonen, Mittäterschaften und den Unterschied sowie die Brisanz von Machtmissbrauch und sexuellem Missbrauch sehr klar ein.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Für die Medien: dass sie an demokratischer Relevanz verlieren und der wirtschaftliche Druck weiter zunimmt.
Für die Gesellschaft: dass der Common Sense schwindet, die Teilnahme an politischen Prozessen ab- und die Spaltung der Gesellschaft zunimmt.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Meldungen auf der Basis von leicht lesbaren Daten (zum Beispiel Jahresberichte, Sportergebnisse) und klassische Zusammenschriebe komplett. Für alle anderen Formen, die keine Vor-Ort-Recherche oder persönliche Interviews erfordern, wird es mindestens jemanden brauchen, der/die der Maschine die richtigen Fragen stellt, Informationen und Material selektiert und automatisierte Ergebnisse kundig verwendet.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Das ist beides ein bisschen pathetisch, nicht? Wie in allen Branchen gehen mit der Digitalisierung im Journalismus enorme Effizienzgewinne einher. Und auch Qualitätssteigerungen. Ich würde mir wünschen, dass sich damit noch mehr und besser wirtschaftlich getriebene Ressourcenmängel ausgleichen liessen – zum Beispiel beim Factchecking.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ja, sie darf aber den Wettbewerb und Innovationen nicht behindern. Daher müsste sie an klare Ziele geknüpft sein, etwa was die Qualität, die Abdeckung von Regionen sowie Themen und die journalistische Ausbildung angeht.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Nur noch Geburtstagskarten und Notizen.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Schlecht natürlich. Er hat das Vertrauen vieler Amerikanerinnen und Amerikaner in die freie Presse zerstört und die Polarisierung der amerikanischen Medienlandschaft und Gesellschaft vorangetrieben. Im Ausland haben wir Medienschaffende uns zudem ohne Not von ihm treiben lassen. Statt fundierter Einordnung haben Newsrooms überall auf der Welt nur allzu gerne die Aufreger, die News, die Klicks mitgenommen, die er uns im Dauerakkord geliefert hat.

Wem glaubst Du?

«Meinen» Top-Nachrichtenmedien; ausgewiesenen Expert:innen auf ihrem jeweiligen Fachgebiet; wissenschaftlichen Studien.

Dein letztes Wort?

Merci für das Interview, hat Spass gemacht. Ein paar Fragen hier könnten allerdings mal eine Aktualisierung vertragen!

Fabienne Kinzelmann

Fabienne Kinzelmann (31) ist Redaktorin für Internationale Wirtschaft & Internationale Korrespondentin bei der «Handelszeitung». Davor war sie Auslandredaktorin bei der «Blick»-Gruppe und entwickelte unter anderem den Newsletter «Blick auf die USA». Im Rahmen der Equal-Voice-Initiative baute sie eine Projektgruppe für die Gleichstellung der Geschlechter und die Sichtbarkeit von Frauen in der Berichterstattung auf. Seit 2022 Co-Präsidentin des Vereins für Qualität im Journalismus (QuaJou).

https://www.handelszeitung.ch/

Basel, 14. Februar 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Seit Ende 2018 sind über 260 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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2 Kommentare zu "Fabienne Kinzelmann: «Die Ära der sozialen Medien, wie wir sie kennen, neigt sich dem Ende zu»"

  1. Was ich frappant finde: Wenn ein Maurergeselle am Morgen den „Blick“ liest und dann seine Maurerarbeit aufnimmt, ist er zwar auch einseitig informiert aber seine Haupttätigkeit ist das Maurern. Da ist die einseitige Information nicht so relevant.
    Wenn aber eine Handelszeitungs-Redaktorin wie aus der Pistole geschossen auf ihre Info-Quelle: „DLF“ angibt, ist dies ebenso einseitig. Und relevanter, da die Haupttätigkeit einer Redaktorin nicht das Maurern sondern die Arbeit mit Informationen ist.
    Das die öffentlich-rechtlichen in Deutschland „gesichert“ einen „Linksdrall“ haben, geht aus der neusten Studie der Uni Mainz hervor:
    https://www.polkom.ifp.uni-mainz.de/files/2024/01/pm_perspektivenvielfalt.pdf
    Zur Handelszeitung: Kann sie nicht objektiv beurteilen, da ich sie nicht regelmässig (auch noch) lesen kann. 2 Artikel blieben mir jedoch im Kopf hängen: Vor ca. 3 Jahren schrieb die „Handelszeitung“, der Media Markt Schweiz AG ginge es schlecht und es stünden womöglich Entlassungen bevor. (In den Hauptmedien wie Tagi, NZZ usw las man nichts davon). Bei den Mitarbeitenden gab es eine grosse Unruhe bis Angst. Dann vor ca. 1-2 Jahren schreib die „Handelszeitung“, Media Markt wolle sich von den grossen Märkten abwenden und kleinere Märkte lancieren, dafür mehrere pro Kanton. Beide Meldungen sind nicht eingetroffen. Alles bleibt beim Alten und Media Markt Schweiz AG steht gut da.
    Diese subjektive Erinnerung kommt mir beim Thema „Handelszeitung“ hoch. Deshalb zweifle ich subjektiv an der „Handelszeitung“ ob solchen Meldungen, die Verwirrung und Unsicherheit auslösten, aber gar nie eintrafen.

  2. Ich finde es spannend, wie Fabienne Kinzelmann die Veränderungen in der Medienlandschaft beschreibt, insbesondere die Rolle der sozialen Medien. Ihr Punkt über die Fragmentierung und den Rückzug in Echokammern ist sehr treffend.

    Statt der ursprünglichen Idee, Menschen breit zu vernetzen, haben soziale Medien oft das Gegenteil bewirkt. Das bedroht nicht nur die öffentliche Debatte, sondern auch den Journalismus. Gleichzeitig hoffe ich, dass ihre Zuversicht in Bezug auf die Zukunft hochwertiger Inhalte berechtigt ist – gerade in Zeiten, in denen fundierte Einordnung wichtiger denn je ist.

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