Edith Hollenstein: «Die Ideen dürften auch künftig von Menschen stammen und nicht von Robotern»

Publiziert am 5. Juni 2019 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview mit Edith Hollenstein, Redaktionsleiterin von Persoenlich.com, über ihren persönlichen Mediengebrauch, ihren Umgang mit sozialen und anderen Medien sowie Zustand und Zukunft des Journalismus in der Schweiz. Sie sagt, das Wegberechen der gedruckten Auflage werde Folgen haben für die Medienmarken: «Der Wert der physischen Präsenz einer Marke ist nicht zu unterschätzen.» Es sei sehr teuer, eine Marke rein online zu führen. Gerade junge Menschen kommen «nicht mehr so einfach mit journalistischen Marken in Berührung. Sie wissen vielleicht gar nicht, was ‹Tages-Anzeiger› oder ‹NZZ› sind.» Für die Gesellschaft bestehe die Gefahr, dass Stimmberechtigte vor allem auf Gemeinde-Ebene nicht mehr über journalistische Informationen verfügen.

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Zum Frühstück trinke ich Kaffee. Gleichzeitig lade ich die E-Paper-Versionen von «Blick», NZZ und «Tages-Anzeiger» aufs Tablet, damit ich diese Zeitungen auf der Fahrt in die Redaktion lesen kann.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Twitter lese ich, und poste manchmal Links zu eigenen Artikeln. Auf Facebook und Instagram bin ich präsent, um die Social-Media-Accounts von persoenlich.com bewirtschaften zu können.

Es passiert etwas ganz Schlimmes wie 9/11. Wie informierst Du Dich?

Das hängt vom Ereignis ab. Grundsätzlich zuerst auf Newsportalen, dann über Social Media und dann im TV.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Beides. Ich wünsche mir einerseits manchmal die Zeit zurück, in der alles langsamer war und Journalisten nach Pressekonferenzen zuerst einmal ausgiebig Mittagessen gingen, wo sie beschlossen, erst in drei Tagen über die Inhalte der Medienkonferenz zu schreiben. Diese Zeit, die ich nur vom Hören-Sagen kenne (und darum nicht mit Sicherheit sagen kann, ob das so, wie vorher beschrieben, tatsächlich von statten gegangen ist), klingt paradiesisch, weil weniger hektisch. Andererseits gibt es durch die neuen technischen Innovationen so viele Möglichkeiten: Wir als Online-Fachmagazin können Video-Interviews produzieren, was früher den TV-Sendern vorbehalten war. Zudem erhält man sehr schnell und einfach Informationen, für die Journalisten früher Bibliotheken oder Archive durchforsten mussten. Doch ich sehe ein grosses Problem: Es sind zu wenig Ressourcen vorhanden für umfangreiche Recherchen und es wird wahrscheinlich künftig auch immer weniger Journalisten mit vertieften Expertisen in einem Fach geben. Wer prüft, ob ein Nachtragskredit für ein Bauvorhaben der Stadt gerechtfertigt ist und schreibt darüber? Wie viele Journalisten sind noch Experten für Finanzprodukte oder Raumplanung? Demokratiepolitisch problematisch ist zudem, dass für die nationalen Zeitungen wenig Ressourcen vorhanden sind für eine Berichterstattung aus den Regionen wie Tessin, Thurgau oder Graubünden.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Selbstverständlich. Es wird jedoch in zwanzig Jahren im Zuge der Digitalisierung weniger Menschen geben, die gut schreiben können, weil Menschen einander vieles mit Videos und Fotos erzählen.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Den persoenlich.com-Newsletter, natürlich! 😉

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Weglegen. Ich habe keinen Drang, jedes angefangene Buch fertig zu lesen.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Von Freunden, meiner Familie. Über Gespräche beim Mittagessen, aus Zeitungen, Zeitschriften, via Social Media, aus Filmen oder Serien.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Solange es sich der Druck und die Auslieferung für die Verlage lohnt. Der Wert der physischen Präsenz einer Marke ist nicht zu unterschätzen. Es ist sehr teuer, eine Marke rein online zu führen. Auch Nike, H&M oder Zara profitieren online davon, dass sie Läden und Produkte besitzen und damit in der analogen Welt ihrer Kunden präsent sind.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Eine Chance. Journalisten selber oder die Verlage müssten diese Chance jedoch erkennen und die Ressourcen aufbringen, sie zu nutzen.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Ich höre abends beim Kochen gerne Nachrichten oder «Echo der Zeit» über die SRF-App, meist zeitversetzt.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Nein.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 53 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Diese Leute lesen auch News, jedoch über Social Media und dort konsumieren sie lieber Soft News als Hard News. Sie nehmen also nicht mehr wie vor einigen Jahren eine Zeitung zur Hand, sondern sind auf Facebook, Instagram oder Snapchat unterwegs. Das heisst für die Medien: Sie müssen auch dorthin, wenn sie von dieser jungen Zielgruppe gelesen werden wollen. Zudem kommen Junge nicht mehr so einfach mit journalistischen Marken in Berührung. Sie wissen vielleicht gar nicht, was «Tages-Anzeiger» oder NZZ sind. Für die Gesellschaft besteht die Gefahr, dass Stimmberechtigte vor allem auf Gemeinde-Ebene keine oder zu wenig journalistische Informationen verfügen über Geschäfte, Verfahren oder zur Wahl stehende Personen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Dieser Anteil scheint mir zu hoch. Sport- oder Börsenberichte können so erstellt werden, doch diese werden keinen Drittel der gedruckten Zeitung ausmachen. Ich hoffe, dass der Tagi auch in zehn Jahren noch vor allem aus Reportagen, Interviews, Kommentare oder Features besteht. Die Ideen dazu dürften auch dann noch von Menschen stammen und nicht von Robotern. Doch klar, beim Formulieren, Korrigieren, Recherchieren, Transkribieren wird künstliche Intelligenz behilflich sein.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ja.

Wer ist eigentlich eitler – Journalistinnen und Journalisten oder Werber?

Uff, schwierig zu sagen. Es kommt auf die Personen drauf an.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, Grusskarten, Notizen im Büro oder an Anlässen und ab und zu Einkaufslisten, obwohl ich dazu eigentlich eine App nutze, in der ich nur auf Kacheln mit Bildern von «Rucola» oder «Zahnbürste» tippen muss.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Schlecht, auch wenn amerikanische Titel seinetwegen nun höhere Abozahlen erreichen. Dass sich die Medien so sehr um seine Person und seine Äusserungen kümmern, lenkt sie von bedeutenderem ab: über seine Politik und die Folgen daraus zu berichten. Und schlimmer noch: Sein Stil und seine Haltung Journalisten gegenüber könnte von anderen ranghohen Politikern weltweit imitiert werden.

Wem glaubst Du?

Den Zweiflern.

Dein letztes Wort?

Sind wir schon am Ende?


Edith Hollenstein

Edith Hollenstein (1980) ist Redaktiuonsleiterin von Persoenlich.com online. Sie hat nach dem Studium «Journalismus und Kommunikation» am Institut für Angewandte Medienwissenschaften der ZHAW in Winterthur 2011 beim Online-Fachmagazin persoenlich.com gestartet, wo sie 2014 die Redaktionsleitung übernommen hat. In ihrer Arbeit befasst sie sich mit Medienpolitik und -ethik sowie mit nationalen und internationalen Entwicklungen in Werbung, Marketing und Unternehmenskommunikation. Edith Hollenstein ist Mitglied im Vorstand des Vereins «Qualität im Journalismus».

https://www.persoenlich.com/


Basel, 5. Juni 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Ein Kommentar zu "Edith Hollenstein: «Die Ideen dürften auch künftig von Menschen stammen und nicht von Robotern»"

  1. „Von Hand schreiben? Einkaufslisten?
    Natürlich habe ich eine App, in der ich nur auf Kacheln mit Bildern von «Rucola» oder «Zahnbürste» tippen muss.“ Beschäftigungstherapie wie im „Kindsgi“.
    Und wehe, es geht mal der Strom aus. Dann wird es dunkel, und die Gewinner werden wieder die sein, welche heute als Hinterwäldler dastehen, jene nämlich, die noch auf einem Notitzblöckli „Brot, Wurst und Milch“ notieren.
    Aber es ist ja viel cooler, im Coop mit dem App rumzuwedeln und zu shoppen, als wie die andern, das Zetteli zu zücken.
    Damit grenzt man sich von den Omis, den Alten ab (man gilt damit noch als „jung“) und gleichzeitig kann man sich auch von den Armen abheben, die sich solches Zeug schlichtweg nicht leisten können.
    Alles Show und Image. Mein Gott, wo geht die Reise der Menscheheit noch hin….

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