Diana Frei: «Print is not dead, wäre ja noch schöner»

Publiziert am 31. August 2022 von Matthias Zehnder

Das 192. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Diana Frei, Co-Leiterin Strassenmagazin Surprise. Sie sagt, Strassenzeitungen seien sicher eins der wenigen Medien, bei denen der Sinn der gedruckten Zeitung auf der Hand liegt: «Das Papier, auf dem unsere Texte stehen, ist auch das Medium, das Begegnungen auf der Strasse erst möglich macht.» Sorgen macht ihr vor allem die schrumpfende Medienvielfalt: «Wenn ich über das Heute nachdenke, kommt mir vor allem in den Sinn, was in meinem Medienwissenschaftsstudium schon vor 25 Jahren als Gefahr benannt wurde: Medienkonzentration, Meinungsmonopole.» Sie findet deshalb, dass die Schweiz sich Qualitätsmedien leisten sollte: «Sie sind kein Konsumgut, das man dem Markt überlassen darf.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Zum Frühstück gibt es bei mir einen Kaffee in der Küche, und die Küche ist Ort, an dem die Sachen zum Lesen herumliegen, die Zeit brauchen. Also eine wilde Mischung an Zeitschriften, Zeitungen, Büchern und einzelnen Gedanken und Sätzen, abgeschrieben oder herausgerissen. Der Radio, den ich vor allem zum Geschirrspülen tatsächlich anschalte (meist SRF info), steht auch hier. All das wird aber eher genutzt an freien oder an Homeoffice-Tagen (obwohl, manchmal lese ich auch nur fünf Sätze eines Romans; irgendwie lohnt es sich, mit Geschichten und Figuren in Verbindung zu bleiben, auch wenn man in der Handlung nicht recht vorankommt). Muss ich pendelnderweise von Zürich auch Basel auf die Surprise-Redaktion, reicht es mir nur für die «Tagesanzeiger»-App, damit ich nicht die ganz grossen Dinge auf der Welt verpasse. Ich bin kein News-Junkie, wohl auch in Zusammenhang damit, dass ich in erster Linie Kulturredaktorin bin und mich ansonsten mit sozialen Themen beschäftige. In die Tiefe dieser Themen stosse ich vor allem in der Diskussion mit Redaktionskolleg:innen vor, dank dem Wissen und der Erfahrung unserer Sozialarbeiter:innen, in Gesprächen mit Betroffenen und der Zusammenarbeit mit Expert:innen und eigenen Recherchen. 

Es sind Themen, die kaum tagesaktuell sind. Mein Frühstücksstapel ist es daher auch nicht. Im Moment besteht er konkret aus Milena Mosers «Land der Söhne», X Schneebergers «Neon, Pink & Blue», und Filmzeitschriften: «Sight & Sound», «Revolver», «Filmbulletin». Wenn ich es mir nun so überlege, bedaure ich doch, dass ich aus Spargründen das «art magazin» abbestellt habe. Eigentlich bringen mich Bilder auf interessantere Ideen, auch fürs Erzählen, also Schreiben, als Text. 

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram? 

Bin ich auf sozialen Medien unterwegs, beobachte ich vor allem unwillkürlich Reflexe. Andere, aber auch meine eigenen. Und halte mich meistens zurück. Auf Facebook habe ich aber auch entdeckt, dass es lehrreich und lohnend sein kann, sich ernsthaft auch mal in andere Meinungen einzulesen. Wenn echter Austausch stattfindet, staune ich. Ich glaube, dadurch kann man  ein Gefühl für gesellschaftliche Dynamiken bekommen. Vielleicht würden sie ohne soziale Medien so auch nicht entstehen – ich denke zwar doch, sonst wären auf dieser Welt nie irgendwelche Konflikte entstanden. 

Twitter macht mich irgendwie nervöser, ich kann mit dem Ton nicht umgehen, mit dem kurzen Herausposaunen von Meinungen vor allem. Ich bin nicht aktiv und finde es sträflich, dass ich mich nicht intensiver darum kümmere. Darum, wofür ich es nutzen könnte, und als Quelle. Es ist ein mächtiges Instrument, und ich lasse es liegen. Hm. Aber ich habe den Ton oder die Haltung nie gefunden, in dem es sich für mich richtig anfühlen würde zu twittern. 

Instagram ist toll. Vielleicht verstehe ich Bilder besser als Ausformuliertes. Wenn ich Bilder sehe, verstehe ich, wie Menschen denken. Worauf sie ihr Augenmerk richten. Aus welchem Blickwinkel sie die Welt betrachten. Was ihnen wichtig ist. 

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Corona hat meine Mediennutzung nicht verändert – ausser im Austausch und bei der Recherche. Was früher live oder per Telefon passierte, läuft bei mir über Zoom, und ich vermisse die alte Welt nicht im Geringsten. Sitzungen sind speditiver, Interviews sind am Bildschirm genauso möglich wie am Kaffeetisch, man verliert keine Zeit mit Wegen und in der Minute nach dem Gespräch, in der noch alles frisch ist, bin ich schon in der richtigen Position, um mit Schreiben zu beginnen. Ich könnte mein Leben auf Zoom verbringen, habe aber vielleicht auch mehr als andere Menschen die Neigung, den Bildschirm mit der Realität zu verwechseln. Selbst wenn ich eine Sprachaufnahme ab iPhone abhöre, bleibt als Gefühl, ich würde hier und jetzt mit dieser Person sprechen; ich finde, die Unmittelbarkeit überträgt sich medial. Und ich freue mich, wenn ich die Wohnungseinrichtung, das ungemachte Bett im Hintergrund oder den Sohn sehe, der hinten durchs Bild läuft. Ich habe in der Corona-Zeit ab und zu als Zuschauerin an Zoom-Panels teilgenommen (die Podiumsdiskussionen vor Ort ersetzt hatten) und fand es grossartig, wenn einem Menschen aus der ganzen Welt, die sich fürs Gleiche interessierten, einander nebenher Einblick gaben in ihre Wohnzimmer. Gut, unterdessen haben viele die Traumstrände entdeckt oder den Blur, aber trotzdem. Es war irgendwie erfrischend grenzüberschreitend, dass man sich mit seinem häuslichen Chaos eine Blösse gibt. Ausserdem, ja: Für Reportagen oder Porträts ist Zoom nicht geeignet, das finde ich auch.

Ich vermisse auch ernsthaft, dass die Theaterstücke verschwunden sind, für die ich im Vorfeld Post mit einem Mitmach-Kit mit kleinen Requisiten zugeschickt bekam. Für die mein eigenes Badezimmer zum Ort des Theaterstücks ab Laptop wurde. Ich fand diese Ideen nicht nur innovativ und es wert, weitergedacht zu werden, sondern auch inklusiv. Rollstuhlgängig, hörverstärkt, weil man am eigenen Laptop immer in der ersten Reihe sitzt, und auch tendenziell familienkompatibel. 

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter? 

Ich komme gerade aus Xavier Giannolis Film «Illusions perdues», basierend auf Honoré de Balzacs gleichnamigem Roman. Es geht nicht zuletzt um gekaufte Meinungsmache und Journalismus als Geschäft, ein Blick auf eine Gesellschaft mit Claqueuren und Zeitungsenten. Jetzt würde ich spontan sagen wollen: Früher war alles schlechter. Das stimmt so wohl nicht, aber es könnte sein, dass die Dynamiken irgendwo vergleichbar waren. Wenn ich über das Heute nachdenke, kommt mir vor allem in den Sinn, was in meinem Medienwissenschaftsstudium schon vor 25 Jahren als Gefahr benannt wurde: Medienkonzentration, Meinungsmonopole. Irgendwann kamen die Mantelzeitungen und man wunderte sich darüber, dass in Bern, Basel und Zürich irgendwie nur noch die Verpackung eine andere war und der Inhalt plötzlich mehr oder weniger derselbe. Nein, natürlich wäre es nicht gut, irgendwann nur noch eine Zeitung zu haben, die womöglich auch noch einem Politiker gehört. Was mich aber ehrlich überrascht und freut, ist, dass doch etliche Medien entstanden sind, die mit Herzblut und dem Glauben an guten Journalismus betrieben werden: «Das Lamm», «Tsüri», «Reflekt» vor allem, die ganz Kleinen mit erstaunlichem Output und Gespür dafür, wo unsere Gesellschaft steht. Hier passiert etwas mit Herzblut und Engagement, und es ist eigentlich das Gegenteil der Entwicklungen hin zu einer allgemeinen Medienmüdigkeit. Ja, eigentlich staune ich darüber. Auch «Bajour» und die «Republik» stehen ja in diesem Geist.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Bei uns schon! Print is not dead, wäre ja noch schöner. (Geschrieben wird ja zwar auch im Internet das Meiste, merke ich gerade. Also eh: Sicher haben geschriebene Worte Zukunft. Ausserdem: Auch alles, was gelesen wird, wird ja erst mal aufgeschrieben.) Bleiben wir beim Print: Steigende Papier- und Druckkosten und die Digitalisierung machen Print sicher nicht zu dem Zukunftsmodell, aber gerade Strassenzeitungen sind sicher eins der wenigen Medien, bei denen der Sinn der gedruckten Zeitung auf der Hand liegt. 

Schön finde ich am Print, dass damit eine andere Art der Zeitlichkeit verbunden ist als bei digitalen Angeboten. Papier hält man sich offensichtlich für Momente der Ruhe auf: Jedenfalls bekommen wir ab und zu Leserbriefe zu Heften, die schon längst nicht mehr im Verkauf sind und trotzdem mit den Worten beginnen: «Soeben habe ich Ihr Heft gelesen…» Es könnte auch sein, dass da ein:e Leser:in ganz am Ende einer ganzen Kette von Leser:innen steht, wenn ein Heft weitergereicht wird. Auch das ist ein interessanter Gedanke beim Print. Klar, man kann Inhalte auch digital teilen. Trotzdem, ein Weiterschenken wäre das nicht. Für ein Strassenmagazin wird Print immer Sinn machen. Unsere Verkäufer:innen sind keine Mitarbeiter:innen, die man einsparen will, wenn ein Geschäftsmodell nicht mehr funktioniert. Sie sind Dreh- und Angelpunkt einer Strassenzeitung. Das Papier, auf dem unsere Texte stehen, ist auch das Medium, das Begegnungen auf der Strasse erst möglich macht. 

Was soll man heute unbedingt lesen?

Man soll Texte lesen – egal ob Zeitung, Zeitschrift oder Bücher – die es schaffen, die eigene Perspektive für einen Moment zu verändern. Sie sollen eine neue Sichtweise oder neue Gedanken zulassen, statt Stereotypen bestätigen. Sie sollen Erzählweisen aufbrechen und sorgfältig mit der Frage umgehen, wie erzählt wird: mit welcher Haltung, mit welchem Blick. Texte sollen einen an Erfahrungen teilhaben lassen; in der Fiktion ist das eher das erste Ziel als im Journalismus. Er könnte es aber auch. Oft sind es aber doch feste Gefässe und eng definierte Formen, die Journalist*innen – vielleicht auch unbewusst – dazu zwingen, Raster zu erfüllen. Denkweisen zu erfüllen. Ich habe an der F+F Schule für Kunst und Design Zürich auch den Filmstudiengang gemacht, und mein Schnitt-Dozent sagte: «Jeder Film ist sein eigener Prototyp.» Jede Geschichte braucht ihre eigenen Regeln, und unsere Aufgabe ist es, sie zu finden. Ich glaube, das hat viel mit der Authentizität von Inhalten zu tun. Eigentlich auch bei Texten. 

Bei Surprise schreiben wir oft über wenig Privilegierte, gerade hier ist der Blick wichtig, der den Menschen gerecht wird. Geraten wir ins Fahrwasser von Stereotypen, kann es Menschenbilder zementieren – grundsätzlich immer auch mit konkreten sozialpolitischen Folgen. Erfahrung zu teilen und Empathie zu entwickeln, scheint mir auch im Journalismus wichtig. Und sich zu überlegen: Was wird wie was von wem warum erzählt? 

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Schlimm ist: Ich habe jahrelang nicht mal die guten Bücher zu Ende gelesen, weil irgendwie immer etwas scheinbar wichtiger war. (Kinder klein.) Ein guter Einstieg ins Wieder-Lesen waren unsere eigenen Literaturausgaben jeweils im Sommer. Da ich dafür verantwortlich bin, stieg irgendwie der berufliche Druck – so peinlich es ist, das zuzugeben: Ich musste einfach wieder lesen. (Und: Kinder grösser.) Über die Kurzgeschichten in den Sommer-Ausgaben habe ich also gemerkt, wie vielfältig die Schweizer Literaturszene ist. Wie erfrischend, wie innovativ und mutig, stark auch in der Haltung. Wie genau Romane recherchiert sind. Ich lese nun oft auch dann wieder, wenn ich eigentlich keine Zeit dafür habe. Es hat lange gedauert, bis ich sagen konnte: Ein Haufen Zeug nicht erledigt? Okay, ich lese jetzt eine Stunde. Aha, die Frage zielte auf schlechte Bücher: Ich weiss nicht, ich finde gerade alles gut. Oder vielleicht fange ich schlechte Bücher gar nicht erst an. 

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Im Schulstoff meiner Kinder. Am liebsten habe ich Mathetricks auf Instagram. Das wusste ich tatsächlich nicht, dass die mich interessieren. Ich war schlecht in Mathe in der Schule, und jetzt tatsächlich begeistert von Instagram-Tricks. Ich habe das nicht systematisch durchforstet, aber @stud3s_mathe wird mir immer wieder angespült. Überhaupt finde ich Lernvideos faszinierend: Dass es möglich ist, so vieles online zu lernen. Und dass es so viele Menschen gibt, die Wissen weitergeben, ob es nun ein Geschäftsmodell ist oder Herzblut. Wo ich sonst Dinge erfahre: Im Kino, an Filmfestivals vor allem, wo man sich auf alles einlässt. Wenn mich die Bilder oder ein Erzählstil interessiert, und ich dazu Wissen und Einblicke in Welten mit auf den Weg bekomme, die ich vielleicht nur aus den News kenne. Gianfranco Rosi passiert da zum Beispiel, um ein einziges Beispiel zu nennen («Fuocoammare», «Notturno»). Und ich erfahre Dinge im Kontakt mit Menschen. Zum Beispiel ist das Stichwort «Inklusion» erst mal ein trockener Begriff, aber wir wissen: ein wichtiges Thema. Was es menschlich heisst, nicht dazuzugehören, habe ich aber erst in Gesprächen mit einem IV-Bezüger begriffen. Und nicht in einem Rechercheinterview, sondern in vielen informellen Gesprächen. Auch da hatte ich nicht gewusst, dass es mich wirklich interessiert. 

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Ich würde sagen, es gibt sie noch lange. Sie gehören zu einer Demokratie. Auch wenn sie vielleicht einmal etwas museal werden. Vielleicht sind es dann ein paar Projekte von Idealist:innen, subventioniert oder von Stiftungen gefördert. Kein Marktmodell, das funktioniert, aber etwas, das weiterhin wichtig ist. Naja, ganz ehrlich: Ob ich mich bei der gedruckten Form verschätze, weiss ich nicht. Ich wünsche mir, dass es sie weiterhin gibt. Ich habe auch deshalb gedruckte Zeitungen und Zeitschriften zuhause, damit meine Kinder sehen, dass ich Zeitungen lese – und nicht auf Instagram Tanzvideos (@astakhov_dance) oder Igel anschaue, die massiert werden (z. B. @mr.pokee).

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Ich wüsste nicht, inwiefern sie eine Chance sein könnten. Was ich am schlimmsten finde an Fake News ist die Tatsache, dass der Begriff so inflationär verwendet wird. Würde man den Begriff zurückhaltender verwenden, nämlich da, wo er angebracht ist, bei absichtlich gestreuten Falschmeldungen, würde ich nicht jedesmal zusammenzucken, wenn ich «Fake News» höre. Ich wünschte mir, der Begriff hätte nicht eine solch seltsame Karriere gemacht. Er ist zum Kampfbegriff geworden, der unhinterfragt von vielen geschluckt wird. Ein Totschlagargument. Wenn einem etwas nicht passt, nennt man es Fake News. Ich finde das gefährlich; so wird die Erde am Ende wieder flach. 

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen? 

Ich habe seit Jahren nicht mehr linear ferngesehen. Einige Jahre hatte ich aber ein Fitnessabo und auf dem Laufband sehr gerne ferngesehen, zum Beispiel BBC World News. Da habe ich mich gefreut, wie geschmeidig das Ganze zwischen harten Fakten und Small Talk hin- und her wechselt. Und sehr ins Auge sprang mir die Tatsache, wie viel inklusiver diese Sendungen daherkommen im Vergleich zum Schweizer Fernsehen. Gut, es sind World News, aber trotzdem, auch im Studio. Nicht nur ethnisch, auch bezogen auf die soziale Durchmischung der Gesprächspartner. Arm, Reich, Jung, Alt, berufliche, unterschiedlicher Bildungshintergrund – da kommen sehr viel verschiedene Menschen zu Wort. Und eben, ich höre SRF in der Küche: Da bin ich froh um die ständige Wiederholung, irgendwann habe ich dann auch mit Unterbrüchen die ganze Sendung mitgekriegt. 

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Wir haben bei Surprise einen Podcast, den Surprise Talk, den Simon Berginz zu jeder zweiten Ausgabe für uns produziert. Es ist ein Gespräch meist mit der Autorin, dem Autor eines Textes im Heft und liefert Gedanken im Hintergrund einer Recherche. Ich finde das eine wertvolle Ergänzung, in dem auch medienethische Fragestellung auftauchen. Ich bin allgemein aber keine Podcast-Aficionada, weil ich mich zu schnell von eigenen Gedanken ablenken lasse und dann nicht zurückblättern kann. Spannend finde aber sorgfältig gestaltete Podcasts und Hörgeschichten oder Tonexperimente, wie sie auch am Sonohr Radio & Podcast Festival laufen.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Ich bin ganz bei der herkömmlichen Analyse: Ich denke, es ist für das Funktionieren einer Demokratie wichtig, dass die Bevölkerung grundsätzlich informiert ist und an politischen Prozessen teilnimmt. Man kann sich nun fragen, ob die Entwicklung entsprechend weitergeht, oder ob sie sich wieder umdreht. Wenn ich ganz optimistisch sein möchte, könnte ich denken: Das ist nun vielleicht eine Reaktion auf die Digitalisierung, die die Sache unübersichtlich macht, aber der Mensch will grundsätzlich eine Form von Übersicht haben. Mal sehen. Man sollte jedenfalls dran arbeiten und Medienkompetenz vermitteln. Wo? In den Schulen vermutlich. 

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Echt jetzt?! Naja, Fakten aufbereiten? Ich kann mir vorstellen, dass tatsächlich vieles möglich ist. Übersetzen, Untertitel erstellen, Tiefenunschärfe in Bilder reinrechnen, sehr vieles ist ja keine Hexerei, sogar Illustrationen zu Texten sind automatisiert herstellbar. Ich denke, vieles davon funktioniert auch gar nicht schlecht, zu weiten Teilen funktionieren Computer ja wie menschliche Gehirne und können sie daher auch teilweise ersetzen (eigentlich wollte ich umgekehrt formulieren, aber das Gehirn war wohl vor dem Rechner da). Und beim Rest sind wir ja sehr schnell bei den ganz grossen Fragen: Was macht denn das Menschliche aus? Im Journalismus ist es ja sogar recht einfach, und zum Glück habe ich die Antwort eigentlich oben schon gegeben: Es geht um Haltung und die Frage: Wie erzähle ich? Das sind menschliche Entscheidungen, die mehr mitdenken als Fakten zuzuordnen. Daher, natürlich, lässt sich Journalismus sicher nicht automatisieren. Dann gibt es aber auch z. B. Datenjournalismus, was wir bei Surprise nicht machen können. Darin liegt eine Riesenchance. Ich würde den Roboter aber auch da letzten Endes immer mit einem Menschen zusammenarbeiten lassen. 

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Weder noch, es ist eine Weiterentwicklung mit allen Vor- und Nachteilen. Ich kann schlecht abschätzen, wo wir heute stehen und in welche Richtung wir uns noch entwickeln. Die Entwicklung wird geprägt vom Zusammenspiel technischer Möglichkeiten und der tatsächlichen Nutzung durch Menschen, durch das Zusammenkommen von politischen oder gesellschaftlichen Interessen, durch Haltungsfragen, politische Stimmung und Zeitgeist. Es sind viele Variablen und wie sich alles beeinflusst, wie die Welt in 50 Jahren aussieht, ist in der Tat spannend. Eine Prognose scheint mir schwierig, oder ich bin schlecht darin, eine abzugeben. Ich kann mir vorstellen, dass ich überrascht sein werden. Als während meines Diplomstudiengangs am am MAZ einmal die Rede war vom Blog als journalistische Form, dachte ich nur: Was um Gottes Willen, was haben Katzenvideos mit Journalismus zu tun? Aber ja, die medialen Formen haben sich verändert, und sie werden es auf neue Art tun. Da Verhältnis von öffentlich und privat ändert sich, die Frage von Autoritäten ändert sich, Formen des privaten Engagements genauso wie gesellschaftlicher Abspaltung, und die Machbarkeit beschleunigt und ermöglicht einzelne Tendenzen. Welche wie und wann, weiss ich nicht.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Naja, ich bin Kulturjournalistin und sähe auch viele Filme nicht, wenn sie nicht gefördert (also produziert) worden wären. Ich finde Fördergelder nicht falsch, auf einem kleinen Markt wie der Schweiz finde ich sie doppelt gerechtfertigt. Qualitätsmedien sollte man sich leisten, sie sind kein Konsumgut, das man dem Markt überlassen darf. Das Gegenargument der Abhängigkeit vom Staat greift für mich nicht, die Alternative wäre die Abhängigkeit von einzelnen Mächtigen mit dem nötigen Geld, was ich für gefährlicher halte. Medien sind die Vierte Gewalt neben Exekutive, Legislative und Judikative, so habe ich es im Studium gelernt, und sie sind dazu da, das politische Geschehen für die Öffentlichkeit transparent zu halten und auf Machtmissbrauch hinzuweisen. Ja, das muss man erhalten, auch mit Medienförderung.  

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, sehr unleserlich. Ich mache oft Notizen wie wild. Ich unterscheide dann Wichtiges von Unwichtigem abhängig davon, was ich später noch lesen kann. 

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Schlecht, würde ich sagen. Inwiefern könnte Trump gut sein für die Medien? Um sie wachzurütteln? Er hat Dynamiken vielleicht nicht von Grund auf entfacht, aber ein Verhalten zumindest scheinbar salonfähig gemacht, das demokratische Gewissheiten auf den Kopf stellt. Und einen Grundton, der vorher offenbar schon bei vielen Menschen schon vorhanden war, in der Öffentlichkeit neu gesetzt, und vorgemacht, wie man rote Linien überschreitet. Das ist schon wohl auch für Otto Normalverbraucher eine Art Referenz, auf welche Art man sich öffentlich äussern kann. 

Wem glaubst Du?

Ich glaube Menschen, die sich mit einer Sache in längeren Zeiträumen auseinandersetzen und Hintergrundwissen dazu haben. Die mit Menschen auf der Strasse genauso in Kontakt sind wie mit Experten, die zuhören, hinterfragen, nachrecherchieren. Und ich glaube Menschen, die an anderen Meinungen ehrlich interessiert sind. Die vieles wissen, aber auch bereit sind, Sichtweisen zu revidieren. Meine Redaktionskolleg*innen beim Strassenmagazin Surprise sind unter anderem solche Menschen. 

Dein letztes Wort?

Normalerweise stelle ich die Fragen. Selbst Antworten zu geben, fühlt sich nach grosser Verantwortung an. Ich denke, es ist auch so. Wenn wir schon von gesellschaftlichen Dynamiken reden: Ich würde mir wünschen, dass möglichst viele Menschen diese Verantwortung auch spüren, wenn sie sich äussern. 


Diana Frei
Diana Frei hat in Basel Germanistik, Kommunikations- und Medienwissenschaften und Nordistik studiert und später den Diplomstudiengang Journalismus am Medienausbildungszentrum MAZ Luzern absolviert. Sie arbeitete im Theater- und Dokumentarfilmbereich als Regie- und Produktionsassistentin sowie als freie Journalistin für Zeitungen und Zeitschriften wie das Kulturmagazin der Basler Zeitung, den Tages-Anzeiger und die annabelle. Beim Zürcher Unterländer war sie als Lokalredaktorin angestellt. Für das Strassenmagazin Surprise schreibt sie seit 2002, seit 2011 gehört sie zum Redaktionsteam. Sie ist Mitglied der dreiköpfigen Redaktions-Co-Leitung und für die Kultur verantwortlich.
https://www.surprise.ngo/


Basel, 31. August 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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