David Signer: «Die Herausforderung besteht darin, Neues zu entdecken und Neues zu denken.»

Publiziert am 12. Juli 2023 von Matthias Zehnder

Das 237. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit David Signer, Nordamerika-Korrespondent der «NZZ» in Chicago. Er glaubt, dass es nicht mehr so lange gedruckte Tageszeitungen gibt. «Aber das ist auch keine Tragödie. Online hat ja viele Vorteile.» Die Digitalisierung sei «paradiesisch für jemanden, der aus der vordigitalen Zeit kommt», sagt Signer. «Nur schon, dass man heute in Sekundenschnelle fast jeden Artikel und Film, jedes Buch, Bild und Musikstück herunterladen kann – wunderbar! Das ermöglicht viel mehr Recherche und Faktencheck als früher.» Weil in den Online-Ausgaben der Tageszeitungen die Ressortstruktur aufgeweicht sei, «stosse ich eher auf Artikel, die ich sonst überblättert hätte.» Bloss Podcasts hört er nicht: «Mich stört, dass ich nichts unterstreichen kann.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Ich schau kurz, ob ich dringend etwas Aktuelles schreiben muss, und dann frühstücke ich – ohne Medien.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Minimal. Ich scrolle mich manchmal durch, um zu schauen, womit sich meine «Freunde» so beschäftigen – und entdecke manchmal Anregendes. Aber meist ist es eine Art Klatsch (was auch seinen Reiz hat).

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Ich war damals in Senegal. Corona bedeutete weniger Reisen, weniger Begegnungen. Zum Glück gab es Internet, denn am Kiosk waren lediglich ein paar lokale Blätter erhältlich und ein vergilbtes, staubiges Newsweek vom Vorjahr.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Viel schlechter. Es war ja schwierig, an ausländische Medien zu kommen. Für manche Infos, die man heute in Sekundenschnelle im Internet findet, musste man in die Bibliothek oder endlos herumtelefonieren.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Definitiv.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Man muss nichts. Das ist ja das Schöne, dass es eine riesige Auswahl gibt.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Früher las ich sie zwanghaft zu Ende, selbst wenn ich nichts verstand. Heute folge ich mehr dem Lustprinzip.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Dadurch, dass in den Online-Ausgaben der Tageszeitungen die Ressortstruktur aufgeweicht ist, stosse ich eher auf Artikel, die ich sonst überblättert hätte. Aber vor allem im direkten Gespräch, weil man bei erzählenden Menschen nicht einfach weiterblättern kann.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Wahrscheinlich nicht mehr so lange. Aber das ist auch keine Tragödie. Online hat ja viele Vorteile.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Die Bubble-Bildung ist wohl eine Gefahr. Aber die Halbwahrheiten gab es früher auch, man denke nur an die Boulevardmedien (die ich liebe).

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Schon lange nicht mehr.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ich sollte wohl, tue es aber nicht. Mich stört, dass ich nichts unterstreichen kann.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Föck.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Ein grosser Teil, ja. Aber vorderhand rezykliert KI vor allem Vorhandenes – was ja auch die meisten Journalisten tun. Die Herausforderung besteht also darin, Neues zu entdecken und Neues zu denken.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Natürlich gibt es Gefahren, aber es ist auch paradiesisch für jemanden, der aus der vordigitalen Zeit kommt. Nur schon, dass man heute in Sekundenschnelle fast jeden Artikel und Film, jedes Buch, Bild und Musikstück herunterladen kann – wunderbar! Das ermöglicht viel mehr Recherche und Faktencheck als früher.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ich weiss nicht.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, Notizen. Das wirkt bei einem Gespräch weniger distanziert als Eintippen.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Er hat die Auflagen und Klickzahlen befördert, aber führte zu Schwarzweissmalerei und Polarisierung auch in den Medien, vor allem in den USA, und zwar sowohl links wie rechts. Zudem wurden, gerade punkto USA, andere wichtige Themen in den Hintergrund gedrängt.

Wem glaubst Du?

Niemandem a priori. Man muss sich halt immer vergegenwärtigen, wer was wann in welchem Kontext sagt.

Dein letztes Wort?

Fail better.


David Signer
David Signer ist 1964 in St. Gallen geboren, hat in Zürich und Jerusalem Ethnologie, Psychologie und Linguistik studiert und 1994 promoviert. Er war Lehrbeauftragter und Forschungsassistent an der Universität Zürich und hat Feldforschung über Hexereiglauben in Westafrika (1997-2000) durchgeführt. Signer ist Autor mehrere Bücher. Als Journalist arbeitete er beim «Magazin», für die «Weltwoche», «DU», «NZZ am Sonntag» und die «NZZ». 2016 bis 2020 arbeitete er als «NZZ»-Afrika-Korrespondent in Dakar. Seit 2021 ist Signer «NZZ»-Nordamerika-Korrespondent in Chicago.
https://www.nzz.ch/impressum/david-signer-ld.154628


Basel, 12. Juli 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Bild: Katja Müller

Seit Ende 2018 sind über 230 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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