Daniel Puntas Bernet: «Ausgeruhte Artikel ein paar Tage später sind erhellender und nachhaltiger»

Publiziert am 23. Oktober 2019 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview mit Daniel Puntas Bernet, Chefredaktor «Reportagen», über seinen persönlichen Mediengebrauch, seinen Umgang mit sozialen und anderen Medien sowie Zustand und Zukunft des Journalismus in der Schweiz. Er sagt, sein Drang, «jede Sekunde den aktuellen Stand der Ereignisse zu kennen», sei nicht sehr ausgeprägt. Er macht sich um den Journalismus keine Sorgen: «Je dichter der News-Strom und je häufiger das Getwitter, desto mehr sind Profis gefragt, die möglichst unabhängig berichten, auswählen, kommentieren, einordnen.» Wichtig sei, dass die Menschen lesen: «Wer 300-seitige Bücher liest, fällt nicht so schnell auf eine 280-Zeichen-Textnachricht herein.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Das Frühstück geniesse ich ohne mediale Begleitung. Meist habe ich zuvor «Der Bund» und die «NZZ» gelesen.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Keine Zeit dafür. Wenn ich dann in den klassischen Medien Sätze lese wie «die Reaktionen auf den sozialen Medien fielen so oder so aus», bestätigt mir das meistens, dass ich nicht wirklich etwas verpasst habe.

Es passiert etwas ganz Schlimmes wie 9/11. Wie informierst Du Dich?

Mein Drang, jede Sekunde den aktuellen Stand der Ereignisse zu kennen, ist nicht sehr ausgeprägt. Der, wie die deutschen Kollegen zu sagen pflegen, «ausgeruhte» Artikel tags darauf oder ein paar Tage später, ist in aller Regel erhellender und nachhaltiger, als es die Instant-Berichterstattungen mit ihren Breaking-News suggeriert hatten.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Medien werden – Kostendruck der Verlage, Herausforderung durch die sozialen Medien, Gratiskultur und Glaubwürdigkeitsprobleme hin oder her – immer noch von Journalisten gemacht. Und die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen sind heute trotz angekratztem Berufsimage nicht weniger auf der Höhe ihrer Zeit, als sie es früher waren.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Keine Frage. Wer sich beispielsweise die vielfältige, erfrischende, Sprachkonventionen zerstörende und gleichzeitig sprachschöpferische Kommunikation von Jugendlichen in WhatsApp-Gruppen anschaut, zweifelt keine Sekunde daran.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Spielt keine Rolle, Hauptsache, wir lesen. Denn wer 300-seitige Bücher liest, fällt nicht so schnell auf eine 280-Zeichen-Textnachricht herein. Oder anders ausgedrückt: das Erkennen von Erzählmustern schützt uns vor Fake-News, Verschwörungstheorien, Propaganda. Was ich meinen Freunden schenke: immer wieder Miguel de Cervantes und Gabriel García Márquez; aktuell gerade Emmanuelle Carrère, Toni Morrison und Virginie Despentes.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Früher war ich bei schlechtem Beginn kulanter und dachte, irgendwann muss der Autor oder die Autorin doch noch auf den Punkt kommen! Heute weiss ich: Was mich nach 50 Seiten nicht in den Bann zu ziehen vermochte, wird nicht besser. Weg damit.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Aus anderen Medien, meist ausländischen. Doch vor allem: Unterwegs, auf Reisen, in den Ferien, im Gespräch mit Freunden, und beim Recherchieren zu einer Geschichte ploppt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die nächste auf.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Keine Ahnung und das ist aus meiner Sicht auch nicht die wichtigste Frage. Hauptsache es gibt den Inhalt einer guten Tageszeitung weiterhin, und zwar möglichst unabhängig, vielfältig und gut aufbereitet. Ich lese «Der Bund» und die «NZZ» schon länger digital, allerdings ertappe ich mich immer noch dabei, das Zeitungslayout zu wählen, und dann mit den Fingern die Grösse eines Artikels jeweils so anzupassen und den Text auf dem Screen hin- und herzuschieben, dass ich eine Zeitungsseite auch auf dem Handy lesen kann (statt die durchwegs bequemere Mobil-Variante zu wählen).

Kann man gute Reportagen auch am Bildschirm oder auf einem Display lesen oder funktioniert das für Dich nur auf Papier?

Trotz einer klaren Vorliebe fürs Papier steckt der entscheidende Punkt der Frage im Adjektiv. Solange die Reportage wirklich gut ist und mich packt, ist mir das Trägermedium einerlei.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Für die Gesellschaft eine Gefahr, für die Medien eine Chance. Wann, wenn nicht jetzt, angesichts einer grossen Unsicherheit hinsichtlich Wahrheit und Lüge in vielen Lebensbereichen, hat die Stunde des Journalismus geschlagen, die Sachverhalte zu klären und richtig darzustellen?

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Ein Tagesschau-Moderator sagte mir einmal augenzwinkernd, ich sei wahrscheinlich einer der letzten Zuschauer, die noch Punkt halb acht den Fernseher einschalten würden, um die Nachrichten zu sehen. Der Rest der Schweiz schaue schon längst zeitversetzt.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Die Erfindung des Podcasts ist etwas Wunderbares: seither ist der Gang ins Fitness-Center mit Vorfreude verbunden. Der Urpodcast und Klassiker «This American life» von Ira Glass macht das Rudergerät endlich erträglich.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 57 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

War es früher wirklich so anders? Als ich in diesem Alter war, gehörte ich und mein Umfeld, die wir alle aus einem nicht-akademischen Milieu stammten, garantiert auch zu News-Deprivierten. Aber nur weil sich jemand für News interessiert, heisst das ja noch lange nicht, dass er sich auch gesellschaftlich engagiert oder aktiv die Demokratie mitgestaltet – das können auch News-Deprivierte.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Automatisieren lassen sich vielleicht Kurznachrichten. Doch die bekomme ich ja sowieso überall und kostenlos. Als Zeitungsverleger würde ich mir also nicht Gedanken machen, wie ich meine Inhalte automatisieren kann, sondern wie ich mit meinen Inhalten attraktiv bleibe – und das geht nur mit guten Journalisten, also echten Menschen.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ja, und zwar eine goldene. Je komplexer die Welt, je dichter der News-Strom und je häufiger das Getwitter, desto mehr sind Profis gefragt, die möglichst unabhängig berichten, auswählen, kommentieren, einordnen.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Beim Redigieren ausschliesslich; Kommentarfunktion und Korrekturmodus sind nicht mein Ding. Und natürlich auf Recherche – leider passiert das nicht allzu oft.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Beides. Schaut man sich die Zahlen der «New York Times» an, seit Donald Trump im Amt ist, fällt die Antwort eindeutig aus: es könnte der Zeitung wirtschaftlich kaum besser gehen. Wahrscheinlich profitieren auch andere Titel davon. Trotzdem bin ich skeptisch, weil dieser Präsident auch dazu beiträgt, die Polarisierung der Medien zu verschärfen. Nicht die Chance zur Differenzierung wird ergriffen, sondern jene der Boulevardisierung.

Wem glaubst Du?

Ich bin gutgläubig und glaube zuerst einmal jedem. Mit der Zeit entwickelt man ein Sensorium dafür, bei welchen Menschen oder Medien Skepsis angebracht ist.

Dein letztes Wort?

Wer sich für den anderen interessiert, lebt mehr als ein Leben.


Daniel Puntas Bernet

Nach einer KV-Lehre zuerst Devisenhändler, dann Sportmarketing-Manager. Studium der Deutschen und Spanischen Literatur, anschliessend Gymnasiallehrer, schliesslich Journalist. Daniel Puntas Bernet hat sieben Jahre für die «NZZ am Sonntag» gearbeitet, gründete 2011 das Magazin «Reportagen» und lancierte 2018 mit dem True Story Award den ersten globalen Reporterpreis.
www.reportagen.com und www.truestoryaward.org


Basel, 23. Oktober 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Ein Kommentar zu "Daniel Puntas Bernet: «Ausgeruhte Artikel ein paar Tage später sind erhellender und nachhaltiger»"

  1. Vielen Dank für das interessante Interview. Ein sehr schönes Gespräch konnten wir zusammen mit der Journalistin Franziska Streun im Hotel Beatus in Merligen am Thunersee führen. Es machte Freude und auch Eindruck, wie Daniel Puntas Bernet an die Zukunft des guten Journalismus glaubt. Bin gespannt auf das „True Story Festival“ 2024 in Bern.

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