Christoph Reichmuth: «Ich befürchte, dass die tägliche gedruckte Zeitung bald ein Relikt der Vergangenheit sein wird.»

Publiziert am 27. Juli 2022 von Matthias Zehnder

Das 187. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Christoph Reichmuth, Deutschlandkorrespondent von CH Media in Berlin. Er sagt, dass Corona die Kreativität eingeschränkt habe. «Jedenfalls meine persönliche.» Reichmuth bedauert, dass das Internet «zu mehr Polarisierung» führe. «Das erforderliche hohe Tempo für den Online-Bereich birgt die Gefahr von Oberflächlichkeit und Fehleranfälligkeit.» Reichmuth vermutet, dass «Tageszeitungen künftig ihre Onlineangebote ausbauen, sich die Menschen während der Woche über E-Paper oder nur noch via Webportal informieren.» Zum Wochenende gebe es dann «eine gedruckte, bunte Mehrbund-Ausgabe über viele Seiten, im Stile eines Magazins.» Onlineangebote sieht er auch als Chance, junge Menschen besser zu erreichen. «Die dürfen aber nicht plump oder oberflächlich sein, das spüren die Konsumentinnen und Konsumenten.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

«Süddeutsche», «Tagesspiegel», «Spiegel online», «bild.de», die «FAZ». Und immer: Die «Luzerner Zeitung», mein Leibblatt.

Wie hältst du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Die Twitter-Bubble konsultiere ich leider viel zu oft. Allerdings bekommt man dort doch einiges an Debatten mit und stösst immer mal wieder auf spannende Artikel. Insofern ist Twitter Segen und Fluch zugleich. Auf Facebook bin ich kaum mehr aktiv, auf Instagram verweile ich in der S-Bahn oder wenn ich sonst irgendwie die Zeit totschlagen will.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Offen gestanden ziemlich stark. Just zu Corona-Zeiten habe ich mein Büro im Berliner Regierungsviertel gekündigt und mir ein Büro im Home-Office eingerichtet. Seither fehlen mir Arbeitsweg und spontane Begegnungen mit Kolleginnen und Kollegen. Und: Zu Corona-Zeiten war die thematische Vielfalt ziemlich eingeschränkt. Reportagen, Porträts etc. haben mir doch sehr gefehlt. Und ein Pressegespräch via Zoom ist einfach nicht mit einer direkten Begegnung zu vergleichen. Ich finde, dass Corona die Kreativität eingeschränkt hat. Jedenfalls meine persönliche.

Wenn du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Heute ist vieles, aber sicher nicht alles besser. Ich wurde in einem sehr Medien-affinen Haushalt sozialisiert. Auf dem Tisch lagen die «LNN», das «Luzerner Tagblatt» und das «Luzerner Vaterland» – neben «Basler Zeitung» und NZZ (ich frage mich heute, wie meine Eltern die tägliche Zeitungslektüre überhaupt bewältigen konnten). Allerdings war die Qualität der einzelnen Luzerner Tageszeitungen im Vergleich zu heute doch überschaubar. Das katholische «Vaterland» war ziemlich streng auf CVP-Linie, das liberale «Tagblatt» stand der FDP nahe und die «LNN» war in der Tendenz der SP zugeneigt – was sich in der jeweiligen Berichterstattung deutlich niederschlug. Heute ist die Qualität der gedruckten Zeitung deutlich höher, die Meinungsvielfalt bunter. Das Internet führt – als negative Entwicklung – zu mehr Polarisierung, das erforderliche hohe Tempo für den Online-Bereich birgt die Gefahr von Oberflächlichkeit und Fehleranfälligkeit. Andererseits erlaubt der Online-Auftritt mehr Tiefe bei wichtigen Themen in der gedruckten Ausgabe. Eine Zeitung kann sich heute erlauben, monothematisch eine Seite zu bespielen – und die Aktualität über den Online-Auftritt abzuhandeln.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Ohne Zweifel, ja. Ich glaube auch, dass die Bedeutung des geschriebenen Wortes wieder zunehmen wird. Die Fülle an freizugänglichen Informationen übers Internet und die Gefahr von Fake-News für die Demokratie werden dazu führen, dass der richtig Umgang mit Informationen und wie diese einzuordnen und zu verifizieren sind, wichtiger Teil der Schulbildung werden wird. Das stärkt künftig die Rolle von Qualitätsmedien. In Deutschland ist schon jetzt zu beobachten, dass viele Zeitungen – trotz einbrechender Werbeeinnahmen – in Investigativ- und Hintergrund-Ressorts investieren. 

Was soll man heute unbedingt lesen?

Qualitätsmedien und Wochenzeitungen wie «Die Zeit». Wenn Du auf Bücher anspielst, muss ich eingestehen, dass ich viel zu wenige Romane lese. Leider.

Kannst du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich kann Bücher ohne Weiteres weglegen, schlechte sowieso. Ich kann sogar mittelprächtige Bücher zu 80 Prozent lesen und dann plötzlich die Lust an ihnen verlieren.

Wo erfährt Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Im persönlichen Gespräch. Am besten gelingt mir dies in meinem Berliner Tennisclub, wo Leute mit unterschiedlichsten Hintergründen und Biographien aufeinandertreffen.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Gute Frage. Ich befürchte, dass die tägliche gedruckte Zeitung bald ein Relikt der Vergangenheit sein wird. Was es aber immer geben wird, sind – so hoffe ich doch schwer – gedruckte Wochenzeitungen und Magazine. Ich vermute, dass Tageszeitungen künftig ihre Onlineangebote ausbauen, sich die Menschen während der Woche über E-Paper oder nur noch via Webportal informieren. Zum Wochenende gibt es dafür eine gedruckte, bunte Mehrbund-Ausgabe über viele Seiten, im Stile eines Magazins. Mit tollen Reportagen, Porträts spannender Leute aus der Region, Interviews, Hintergründen, Grafiken und sensationellen Fotos.

Sind Fake-News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Wie schon erwähnt, glaube ich fest daran, dass die gefährlichen Fake-News die Medien stärken werden. Professionelle Einordnung, Gewichtung, Analysen etc. sind die einzig richtige Antwort auf demokratiegefährdende Fake-News.

Wie hältst Du es mit linearem Radio und Fernsehen?

Radio höre ich jeden Tag. Zum Aufstehen eine, maximal zwei Stunden Deutschlandfunk. Wenn mir die Fülle an Informationen zu viel werden, wechsle ich auf «radioeins» vom RBB. Ein ausgezeichneter Sender mit vielen Informationen, guten Moderatorinnen und Moderatoren und toller Musik. Zum TV: Ich suche mir in den Mediatheken aus, was mir gefällt. Oder konsumiere Netflix. Live gucke ich nur noch Info-Sendungen oder Fussballübertragungen.

Hörst Du Podcast? Hast Du einen Lieblings-Podcast?

Jeden Abend zum Einschlafen. Es ist zu einer Sucht geworden. Am liebsten höre ich «Zeit Verbrechen» mit Sabine Rückert. Ich bin ziemlich True-Crime gepolt. Was ich aber auch empfehlen kann, ist der mehrteilige Podcast «Die falsche Gräfin und die Auschwitz-Tagebücher». Wahnsinnig gut erzählte Geschichte über eine Hochstaplerin und wie sie aufgeflogen ist. Wovon ich zum Einschlafen die Finger lasse: Podcasts im Talkshow-Stil über das politische Geschehen. Irgendwann muss man vom Alltag ja abschalten.

Was bedeutet es für die Medien und die Gesellschaft, dass laut fög 55 Prozent der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprimierten gehört?

Es ist eine Aufforderung, dass die Medien diese Zielgruppe «abholt». Die Geschichten müssen so erzählt und eingeordnet werden, dass junge Menschen sich angesprochen fühlen. Dafür eignen sich gerade auch die Online-Portale mit Möglichkeiten für Info-Filme etc. Die dürfen aber nicht plump oder oberflächlich sein, das spüren die Konsumentinnen und Konsumenten. Auch ein pfiffiger Film kann seriösen und ernsthaften Inhalt vermitteln. Über solche Auftritte können die jungen Menschen an die Medien herangeführt werden.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Ein düsteres Szenario. Ich bin sicher, dass sich Herr Supino täuscht. Selbst eine kleine Online-Meldung sollte von einem Menschen geschrieben werden, der sich vorher überlegt hat, warum diese Meldung es wert ist, aufs Portal zu kommen.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ich finde ja. Informationen sind ein zu wichtiges Gut, um sie den Mechanismen der freien Marktwirtschaft zu unterwerfen. Es darf nicht sein, dass einbrechende Werbeeinnahmen dazu führen, dass Recherche nicht mehr bezahlt werden kann.

Schreibst du manchmal noch von Hand?

Notizen auf Reportagen oder für Porträts. Sonst leider kaum noch. Vielleicht noch die Weihnachtskarte für meine Mutter.

War Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Trump war ein Weckruf auch für die Medienbranche. Es war allen klar: Wir müssen den Fake-News konsequent die Stirn bieten. Qualität stärkt das Vertrauen in die «etablierten» Medien.

Wem glaubst Du?

Fakten. Und meiner Intuition.

Dein letztes Wort?

Es war mir eine Freude.


Christoph Reichmuth
Christoph Reichmuth (48) arbeitet seit Januar 2013 als Deutschlandkorrespondent, zunächst für die NZZ Regionalmedien, seit dem Joint-Venture zu CH Media für die Zeitungen der CH Media-Gruppe. Der gebürtige Luzerner war zuvor bei der «Luzerner Zeitung» in verschiedenen Ressorts tätig und arbeitete ein Jahr in Prag für die Prager Zeitung. Er absolvierte die Diplomausbildung Journalismus am Medienausbildungszentrum MAZ in Luzern.


Basel, 27. Juli 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Ein Kommentar zu "Christoph Reichmuth: «Ich befürchte, dass die tägliche gedruckte Zeitung bald ein Relikt der Vergangenheit sein wird.»"

  1. …..Tolles Elternhaus mit so vielen abonnierten Zeitungen.
    Wünsche Ihnen Standhaftigkeit im jetztigen Deutschland mit dieser „Regierung“ und deren Fehlentscheidungen.
    Da braucht es einen Schweizer. Seien Sie die Insel der Vernunft im Ozean des deutschen Wahnsinns.
    Berichten Sie weiterhin so gut – aus allen Beleuchtungsperspektiven – aus diesem ehemals so schönen Land….

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