Christof Gertsch: «Ich sehe so viel Energie, so viele Ideen»

Publiziert am 13. Oktober 2021 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Christof Gertsch, Reporter beim «Magazin». Er sagt, seit Corona reise er weniger und unterhalte sich doch mit mehr Menschen: «Es ist erstaunlich, wie erkenntnisreich ein Zoom/Skype/Google Meet/Telefongespräch sein kann.» Trotz der Digitalisierung schätzt er alles, was eine gedruckte Tageszeitung ausmacht: «Die klare Struktur, der klare Rahmen, die Abgeschlossenheit (im Gegensatz zur Uferlosigkeit des Internets), auch das Geraschel.» Sein Urteil über den Journalismus fällt erstaunlich positiv aus: «Alle, die hier schon gesagt haben, dass früher vieles besser gewesen sei, hatten natürlich recht. Doch ich sehe auch viele kluge, engagierte, erfahrene Kolleg:innen, die sich jeden Tag bemühen, guten Journalismus zu machen, guten Journalismus zu verteidigen, Neues einzuführen – in alten Printverlagen ebenso wie in (noch) kleinen Online-Publikationen.» Er sehe eine «neue Generation von Journalist:innen, die voller Ernsthaftigkeit an die Arbeit gehen und überhaupt nicht selbstverliebt sind, wie ihnen manchmal nachgesagt wird.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Wir frühstücken alle zusammen, meine Frau, die zwei kleinen Kinder und ich. Da liest niemand eine Zeile, dafür hören wir Rete Tre (meine Frau ist Tessinerin) und tanzen bei guter Musik auch mal um den Tisch.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram? 

Ich bin da eher stiller, dafür umso aufmerksamerer Beobachter, Posts setze ich bedauerlicherweise nur zum Bewerben eigener Texte ab. Man kann das selbstverliebt finden, aber die Wahrheit ist, dass mir für alles andere schlicht die Energie fehlt. Dem Gezänk und der Besserwisserei gerade auf Twitter gehe ich möglichst aus dem Weg, die Accounts, denen ich folge, wähle ich sehr bewusst aus. Ich folge Leuten, die mich durch Witz oder Klugheit inspirieren, dazu einigen Accounts, die sich ausschliesslich dem Vergnügen widmen. Dann halten sich im Feed das menschliche Gebell und süsse Hundevideos in etwa die Waage.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Klingt wie ein Widerspruch, ist aber keiner: Ich reise weniger – und unterhalte mich doch mit mehr Menschen. Es ist erstaunlich, wie erkenntnisreich ein Zoom/Skype/Google Meet/Telefongespräch sein kann. Mir passt das ganz gut, was auch mit einer persönlichen Entwicklung zu tun hat: Das Reportagige, vor allem das Szenige ist mir nicht mehr so wichtig wie früher.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter? 

Alle, die hier schon gesagt haben, dass früher vieles besser gewesen sei, hatten natürlich recht. Doch ich sehe auch viele kluge, engagierte, erfahrene Kolleg:innen, die sich jeden Tag bemühen, guten Journalismus zu machen, guten Journalismus zu verteidigen, Neues einzuführen – in alten Printverlagen ebenso wie in (noch) kleinen Online-Publikationen. Ich sehe so viel Energie, so viele Ideen. Und vor allem sehe ich eine neue Generation von Journalist:innen, die voller Ernsthaftigkeit an die Arbeit gehen und überhaupt nicht selbstverliebt sind, wie ihnen manchmal nachgesagt wird. Ich bin dieses Gonzo-Zeugs, die Selbsterfahrungssachen, die Egotrips und die Subjektivität der 1990er- und 2000er-Jahre leid, mir gefällt, dass sich viele junge Journalist:innen um Objektivität, Augenmass und Nachdenklichkeit bemühen. (Am System stört mich natürlich trotzdem vieles: Klickorientiertheit, Boulevardisierung, Sparmassnahmen, you name it.)

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Natürlich. Ich liebe geschriebene Worte.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Bücher. Die WOZ. Eine Tageszeitung (trotz oder gerade wegen der Klickorientiertheit, der Boulevardisierung, den Sparmassnahmen). Ganz aktuell: «Die Erschöpfung der Frauen» von Franziska Schutzbach.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Leider habe ich schon für die vielen guten nicht genug Zeit – wie könnte ich da ein schlechtes zu Ende lesen? (Lesetipps: Alles von Paolo Giordano, Marco Balzano, Kent Haruf und… Elena Ferrante!)

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Ich höre gerne Menschen, die mir nahe stehen, dabei zu, wie sie über etwas schwärmen, in dem sie sich auskennen, von dem ich aber keine Ahnung habe.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Ich schätze alles, was eine gedruckte Tageszeitung ausmacht: Die klare Struktur, der klare Rahmen, die Abgeschlossenheit (im Gegensatz zur Uferlosigkeit des Internets), auch das Geraschel und Gefingere. Aber ich weiss, dass ich damit zunehmend einer Minderheit angehöre, und habe damit wenig Probleme. Das Medium ist egal, der Inhalt zählt.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Verstehe ich die Frage nicht? Natürlich sind Fake News eine Gefahr.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen? 

Ich liebe (LIEBE!) TV-Sportübertragungen, und die schaue ich, wann immer möglich, live. Ich mag den Wettkampf, seine Unmittelbarkeit und Emotionen. Ich fiebere mit den Sportler:innen, ärgere mich über die Kommentator:innen. Ich kann mich ewig mit irgendwelchen sportfachspezifischen Details aufhalten. (Eine besondere Schwäche habe ich eigenartigerweise für American Football, das lässt sich in der Schweiz auch sehr gut zeitversetzt schauen, weil einem hier nicht überall gleich die Resultate begegnen.)

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Mich erstaunt, wie lange es dauerte, bis ich dieses Medium entdeckte, inzwischen bin ich davon nämlich ziemlich begeistert. Mein liebster Podcast: Der (private) American-Football-Podcast eines Freundes, ausgespielt über Whatsapp. Ich glaube, er hat inklusive mir vier Hörer, und doch (oder gerade deswegen?) wirft er sich jede Woche für uns ins Zeug, als wären wir Hunderttausende. So muss ein guter Podcast sein: nerdig und voller Liebe.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Es fällt mir schwer, diese Zahl zu glauben. Aber sie stimmt wohl, das ist traurig. Gleichzeitig frage ich mich: Was bedeutet «News» in diesem Zusammenhang? Sind «News» so gut, so wichtig? Ich glaube, Hintergründe, Aufklärung, Tiefgang sind wichtiger.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Keine Ahnung.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Weder noch.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Natürlich.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Sogar recht häufig, zum Beispiel habe ich immer noch eine papierne Agenda, da hänge ich irgendwie dran. Aus meinem journalistischen Alltag sind handschriftliche Notizen aber beinahe komplett verschwunden. Eher mache ich mir während einer Recherche mal eine Sprachnachricht, oder ich formuliere mir den Gedanken in einer Mail.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Keine Ahnung, wirklich nicht.

Wem glaubst Du?

Meinen Kindern.

Dein letztes Wort?

«Weisst du, was du tun musst, wenn du frustriert bist? – Einfach schwimmen / einfach schwimmen / einfach schwimmen, schwimmen, schwimmen.» (Ich habe einen Screenshot des Zitats auf meinem Laptop, weiss aber leider nicht, von wem es stammt.)


Christof Gertsch
Christof Gertsch, geboren 1982, ist Reporter beim «Magazin». Er schreibt, seit er 15 ist, zuerst für das «Burgdorfer Tagblatt» und die «Berner Zeitung», dann für die NZZ und die «NZZ am Sonntag». Er war zweimal Schweizer «Sportjournalist des Jahres», gewann einen Grimme Online Award für ein Multimediaporträt über den Snowboarder Iouri Podladtchikov und zusammen mit dem «Magazin»-Kollegen Mikael Krogerus den Hansel-Mieth-Preis (für einen Text über Usain Bolt), den deutschen Reporterpreis (für einen Text über den Boxer Buster Douglas) und den Zürcher Journalistenpreis (für die «Magglingen-Protokolle»). Er lebt mit seiner Familie in Bern.


Basel, 13.Oktober 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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