Christine Brand: «Zwei Gefahren für den Journalismus»

Publiziert am 22. Juli 2020 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – im Sommer mit Schweizer SchriftstellerInnen. Heute: Die Berner Krimiautorin Christine Brand. Sie sagt, in den Schweizer Medien sei die Vielfalt durch die vielen Fusionen verloren gegangen und fürchtet, «dass junge Journalisten heute unter dem Spar- und dem Zeitdruck kaum mehr die Gelegenheit haben, den Beruf und das Handwerk des guten und seriösen Journalismus’ von Grund auf zu lernen». Trotzdem glaubt sie fest daran, dass Zeitungen eine Zukunft haben, auch gedruckte Zeitungen. Auf Sansibar, wo sie teilweise lebt, lesen die Menschen gern gedruckte Zeitungen, allerdings auf eine ganz speziell soziale Art. Dem Journalismus ist Christine Brand auch inhaltlich verpflichtet: Die Hauptfigur ihrer Krimis ist eine Journalistin.

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Ich bin an sich kein Frühstücksmensch. Aber nach dem Aufwachen lese ich mich kurz durch die Online-Ausgaben von «Der Spiegel», «Tages-Anzeiger» und «Die Zeit», meist auf dem Handy. Zum Aufstehen höre ich mir oft einen Podcast an.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Twitter nutze ich hin und wieder dazu, um auf journalistische Beiträge zu stossen, die ich auf anderen Kanälen verpassen würde. Facebook ist für mich, die ich mehr als die Hälfte des Jahres im Ausland bin, ein nützlicher Kanal, um Kontakt zu Freunden zu halten und unterwegs lokale Tipps zu finden. Instagram ist mein persönliches Fotoreisetagebuch. Kurzum: Ich nutze alle drei – betrachte insbesondere Facebook und Instagram aber eher als Spielerei.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Zu Beginn des Lockdowns habe ich täglich den Live-Stream zur Pressekonferenz des Bundesrates mitverfolgt. Als ich damit aufhörte, fühlte ich mich allerdings wieder besser. Ansonsten hat sich nicht viel an meinem medialen Alltag verändert.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Weder noch. Ich bin froh, dass ich mich nicht mehr durch die unillustrierten und trocken formulierten Textlawinen aus früheren Zeiten durchkämpfen muss, und dass mir heute Journalismus in spannenderer und auch in unterhaltender Form angeboten wird. Allerdings bin ich bereits in einem Alter, in dem ich nostalgisch den Zeiten nachtrauere, in denen noch genug Geld für grosse Reportagen vorhanden war. In denen ein Chefredaktor sagte: Ziehe los und bringe mir in zwei oder drei Wochen eine gute Geschichte mit nach Hause.

Ich erkenne heute zwei Gefahren für den Journalismus: Die Vielfalt ist durch die vielen Fusionen verloren gegangen, und damit auch die gesunde Konkurrenz. Und ich sehe, dass junge Journalisten heute unter dem Spar- und dem Zeitdruck kaum mehr die Gelegenheit haben, den Beruf und das Handwerk des guten und seriösen Journalismus’ von Grund auf zu lernen.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Ja. Das geschriebene Wort wird nicht sterben. Nie. Ich gehe mit meiner Behauptung noch einen Schritt weiter: Unsere westliche Gesellschaft wäre ohne das geschriebene Wort kaum mehr überlebensfähig.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Es gibt sehr vieles, das man gelesen haben sollte. Aber nichts, das man unbedingt gelesen haben muss. Nach meinem persönlichen Empfinden muss ich selbst unbedingt alles von T.C Boyle, Haruki Murakami und Pascal Mercier lesen.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Es kommt sehr selten vor, dass ich ein Buch weglege, aber es kommt vor. Wenn mein Interesse nach über hundert Seiten noch immer nicht geweckt ist, kann ich gut schlafen, ohne das Ende zu kennen.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Unterwegs, wenn ich auf Reisen bin. Da erfahre ich fast jeden Tag neue Dinge, von denen ich nicht nur nicht wusste, dass sie mich interessieren – sondern von denen ich nicht mal ahnte, dass sie existieren. Auf Reisen fühle ich mich wie ein Kind, das jeden Tag ein Stückchen mehr von der Welt entdecken darf.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Du stellst diese Frage jemandem, der aus organisatorischen Gründen fast nur noch digitale Zeitungen liest. Trotzdem denke ich, dass es immer gedruckte Zeitungen geben wird – allerdings womöglich nicht mehr mit täglichen Ausgaben und wahrscheinlich zu einem höheren Preis. Gut möglich, dass die Printzeitung zum Luxusgut wird. Auf Sansibar, wo ich zwischenzeitlich lebe, wird die gedruckte Zeitung übrigens noch immer vor dem Laden Seite für Seite aufgehängt, weil die Menschen sie sich nicht leisten können. Ein sehr sozialer Weg, die Zeitung zu lesen: Man kann die Artikel dann gleich mit den Menschen diskutieren, die neben einem stehen und mitlesen.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Fake News sind weniger eine Gefahr für die Medien als für die Gesellschaft und für die Demokratie. Aufgabe der Medien ist es, sich von Fake News klar abzugrenzen und für zuverlässige und wahrheitsgetreue Informationen zu stehen.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Ich schaue kaum mehr lineares Fernsehen. Beim Radio sieht es etwas anders aus, was aber einzig daran liegt, dass ich Radio zufällig und selten gezielt konsumiere. Allerdings gibt es Ereignisse, die sich für Live-Übertragungen eignen, die einzig lineares Radio und Fernsehen bieten können. Ich denke zum Beispiel an die Bundesratswahlen oder Live-TV-Reportagen, wie sie SRF einst aus dem Opernhaus oder dem Uni-Spital sendete. Das kann unglaublich spannend, bereichernd und lehrreich sein. Überdies bin ich ein bekennender Fan des Internet-Senders Radio Gelb-Schwarz, der absolut subjektiv und total parteiisch die Spiele des BSC Young Boys live kommentiert.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ja. Ich liebe Podcasts, ich habe sie allerdings selbst erst im letzten Jahr entdeckt, als ich den Podcast «Sihlquai» mitproduzierte. Danach hat es mir den Ärmel reingenommen! Ich schätze sehr: «The documentary» von BBC World Service, «The Daily» der New York Times, «Verbrechen» von der «Zeit». Und «Paardiologie» von Charlotte Roche fand ich sehr unterhaltsam.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Ich habe über 20 Jahre lang im Journalismus gearbeitet. Schon vor 25 Jahren war es auf den Redaktionen Thema, wie man das Durchschnittsalter der Leser senken und junge Leser und Zuschauer gewinnen könnte. Das Problem ist also gar nicht neu. Wichtig ist, dass die Medien beweglich bleiben und sich gegenüber Neuem nicht verschliessen, sondern Trends rechtzeitig erkennen und nutzen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Ich masse mir nicht an, das zu beurteilen, ich kenne mich zu wenig aus. Ich denke jedoch, dass zwar das Erstellen von Mitteilungen automatisiert werden kann – Kommentare, Einschätzungen, Analysen werden aber nie von Robotern geschrieben werden können. Guter Journalismus zeichnet sich dadurch aus, dass der Leser durch die Augen und die Worte des Reporters etwas erleben und erfahren kann, zu dem er sonst keinen Zugang hat. Dass kann nur ein Mensch leisten, der denkt und fühlt und beschreibt, was er erfährt und erlebt.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Weder noch– die Digitalisierung führt viel eher zu einer Veränderung und einer Erweiterung der Medien, die neben einigen Nachteilen auch viele Vorteile mit sich bringen. Das Tempo hat sich enorm erhöht und birgt die Gefahr, dass die Qualität leidet. Dafür sind neue, tolle Formen von Journalismus möglich geworden.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ja. Er ist wichtiger denn je. Die Frage ist allerdings, wie und von wem er in Zukunft finanziert werden wird.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Texte schreibe ich nicht von Hand, aber Notizen kritzle ich noch immer halbleserlich in mein schwarzes Notizbüchlein. Und hin und wieder schreibe ich ganz altmodisch eine Postkarte.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Donald Trump ist für gar nichts gut. Er ist durch und durch ungut. Donald Trump und die Leute an seiner Seite sind gefährlich für die Demokratie, die Politik, die Medien, die USA und die Welt.

Wem glaubst Du?

Dem Ehrlichen.

Dein letztes Wort?

Hoffentlich wird es noch sehr lange dauern, bis mein letztes Wort gesprochen ist. Und wenn ich es werde wählen können, so wird es wohl denn gleich lauten, wie das Wort, das auf der letzten Seite von Romanen steht: Ende.


Christine Brand
Christine Brand, geboren 1973 im Emmental, ist freischaffende Autorin. Zuvor arbeitete sie über zwanzig Jahre lang als Journalistin, unter anderem für «Der Bund», die «Rundschau» des Schweizer Fernsehens und für die «NZZ am Sonntag». Die ehemalige Gerichtsreporterin hat unter anderem sechs Kriminalromane publiziert. Sie lebt heute die Hälfte des Jahres in Zürich und ist sonst als schreibende Nomadin unterwegs.
http://www.christinebrand.ch/

«Die Patientin»

Der blinde Nathaniel besucht regelmässig eine Frau, die im Inselspital im Koma liegt. Eines Tages liegt im Bett der Patientin aber eine andere Person. Die Frau ist verschwunden. Nathaniel wendet sich an Milla Nova und die Journalistin beginnt zu recherchieren. Doch niemand will Auskunft geben, die Krankenakte ist unvollständig. Ein Rätsel, das umso grösser wird, als an der Aare plötzlich Leichen auftauchen. Es entwickelt sich ein spannender Plot zwischen Pharmafirmen, der Intensivstation im Spital, der Redaktion von Milla Nova beim Schweizer Fernsehen und der Sonderkommission der Berner Kriminalpolizei. Bald muss sich Milla Nova mit grossen Fragen beschäftigen: Lässt sich der Geist eines Menschen in einem Computer speichern? Wo ist der Geist eines Menschen, wenn der im Koma liegt? Ein spannender Krimi in Schweizer Setting.

Christine Brand: Die Patientin. Kriminalroman. Blanvalet, 480 Seiten, 22.90 Franken; ISBN 978-3-7645-0704-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783764507046

Meinen Video-Buchtipp zu «Die Patientin» finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/die-patientin/


Basel, 22. Juli 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar, den aktuellen «Medienmenschen» einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman. Einfach hier klicken. Videos dazu gibt es auf meinem Youtube-Kanal.

 

Bild: Lauren Rattray.

Ein Kommentar zu "Christine Brand: «Zwei Gefahren für den Journalismus»"

  1. „Donald Trump ist für gar nichts gut. Er ist durch und durch ungut“ …lese ich oben.
    Jeder Mensch ist ein Mensch ist ein Mensch – heisst es schon im ältesten Buch der Welt.
    Donald Trump hat im Privaten ebenso wunderbare Seiten wie schlechte Seiten wie wir alle.
    In seinem Job – der Politik – hat er vieles richtig gemacht – wie z.B. als ERSTER Staat der Welt gegen das Brandherd-Land China einen Reisestopp verhängt – aber er beging durchaus auch Fehler – wie wir alle.
    „Durch und durch ungut“ – gibt es also nicht – sagt aber viel über die undifferenzierte Schwarz-Weiss-Denke des Interviewgastes aus – empfinde ich.

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