Christina Neuhaus: «Ein guter Text darf auch 30’000 Zeichen und noch länger sein»

Publiziert am 18. Dezember 2019 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview mit Christina Neuhaus, Chefredaktorin von «NZZ Folio», über ihren persönlichen Mediengebrauch, ihren Umgang mit sozialen und anderen Medien sowie Zustand und Zukunft des Journalismus in der Schweiz. Sie sagt, die Nachfrage nach Bewegtbildern oder Podcasts steige zwar rasant an, «aber die Menschheit wird sich weder vom Schreiben, noch vom Lesen verabschieden.» Der Journalismus in der Schweiz sei heute so gut wie nie zuvor. «Doch die Printmedien stehen vor einer sehr ungewissen Zukunft.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Ich frühstücke höchstens in den Ferien. Ich lese aber jeden Morgen die «NZZ», den «Tages-Anzeiger», den «Blick» und die eine oder andere deutsche oder angelsächsische Zeitung. Nur «20min» lese ich eigentlich nie.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Auf Facebook poste ich dann und wann irgendetwas Irrelevantes. Twitter ist für mich im Wesentlichen ein Informations- und Arbeitsinstrument. Auf Instagram bin ich selten. Wenn doch, klicke ich mich kurz durch die Accounts grosser Museen oder glamouröser Modemarken.

Es passiert etwas ganz Schlimmes wie 9/11. Wie informierst Du Dich?

Vor ein paar Jahren hätte ich wahrscheinlich spontan gesagt: im Radio. Heute wären es wohl eher Twitter und – je nach Ereignisort – grosse TV-Sender und Newsportale.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Weder noch. Der Journalismus in der Schweiz ist heute so gut wie nie zuvor. Doch die Printmedien stehen vor einer sehr ungewissen Zukunft.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Davon bin ich überzeugt. Die Nachfrage nach Bewegtbildern oder Podcasts steigt zwar rasant an, aber die Menschheit wird sich weder vom Schreiben, noch vom Lesen verabschieden.

Wie lange darf ein Text sein?

Ein guter Text darf auch einmal 30’000 Zeichen und noch länger sein. Das «NZZ Folio» publiziert regelmässig lange Texte, die auf der NZZ-Website www.nzz.ch die «Meist gelesen»-Kategorie erreichen.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Gottfried Keller zum Beispiel.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Mittlerweile kann ich sie sogar wegwerfen. Ein schlechtes Buch zu Ende zu lesen ist Zeitverschwendung.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Überall. Manchmal erzählt mir jemand etwas, vielleicht lese ich etwas oder höre eine Radiosendung – die Welt ist voller interessanter Dinge. Von den meisten werde ich nie etwas erfahren.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Wer diese Frage beantworten kann, könnte ziemlich viel Geld verdienen. Ich weiss die Antwort darauf leider nicht.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Beides. Grundsätzlich sind gezielt eingesetzte Fake News aber eine Gefahr.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Radio höre ich gerne auch ohne Zeitversetzung. Anders verhält es sich mit dem Fernsehen. Als ich das letzte Mal eine TV-Sendung live verfolgt habe, hiess der «Arena»-Moderator wahrscheinlich noch Filippo Leutenegger.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

«NZZ Folio» hat einen eigenen Podcast, den höre ich mir natürlich an. Zudem schickt mir mein «Folio»-Kollege Reto U. Schneider dann und wann Links zu interessanten Wissen-Podcasts. Grundsätzlich lese ich aber lieber.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Das Fög hat hier meiner Meinung nach einen zu kulturkritischen Begriff kreiert. Nur weil sich 56 Prozent der 16- bis 29-Jährigen in Selbstdeklaration als News-Muffel bezeichnen, heisst das noch nicht, dass alle Nachrichten an ihnen vorbeirauschen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Das kommt darauf an, was man unter Journalismus versteht. Teilweise aber sicher.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ja.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Höchstens Einkaufszettel. Meine Schrift ist grauenhaft.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

In den USA ist das Interesse an nicht kommerziellen, informations- und kulturlastigen Programmen seit Trumps Wahl jedenfalls gewachsen.

Wem glaubst Du?

Bis ich merke, dass ich angelogen werde, jedem.

Dein letztes Wort?

«Resignatio ist keine schöne Gegend».


Christina Neuhaus

Christina Neuhaus hat an der Universität Zürich Deutsch und Geschichte studiert. Ihre ersten Versuche als Journalistin machte sie bei einer Gratiszeitung am Obersee. Dort beschied man ihr, in diesem Metier keine Zukunft zu haben. Danach arbeitete sie bei verschiedenen Lokal- und Regionalzeitungen rund um den Zürichsee. Seit 2001 ist sie bei der «NZZ»: erst als Redaktorin im Ressort Zürich, dann als Inlandjournalistin bei der «NZZ am Sonntag» und der «NZZ». Seit August 2019 leitet sie die Redaktion des «NZZ Folios».
https://folio.nzz.ch/


Basel, 18. Dezember 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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