Christian Zeier: «Wir müssen das Publikum ernst nehmen und möglichst ergebnisoffen berichten»

Publiziert am 18. August 2021 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Christian Zeier, freier Auslandsreporter und redaktioneller Leiter des investigativen Recherche-Teams «Reflekt». Er fragt sich, inwieweit er als «Auslandsreporter einen echten Mehrwert schaffen» kann und wann es besser ist, «mit lokalen Kolleg:innen zusammenzuarbeiten, die ihr Land viel besser kennen». Ein Blick ins Ausland zeige ihm, dass «die grossen Schweizer Redaktionen vergleichsweise träge sind. Viele Entwicklungen wurden verschlafen oder nur zögerlich umgesetzt – dass sich jüngere Menschen da nicht angesprochen fühlen, erstaunt mich nicht.» Grundsätzlich findet er: «Wir Journalist:innen sollten uns nicht zu wichtig nehmen. Es geht um Inhalt – nicht um uns selbst.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Schweizer Tageszeitungen haben für mich in den letzten Jahren an Bedeutung verloren. Gedruckt lese ich nur noch die «NZZ» und die «WOZ» regelmässig. Meist suche ich auf den Seiten von «Al Jazeera», «Guardian», «New York Times», «Wall Street Journal» & Co. nach Themen, die mich interessieren. Dazu «Blick.ch» – mein guilty pleasure für alles rund um YB und Fussball im Allgemeinen.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Über Facebook folge ich Medien in unterschiedlichsten Ländern und stosse so immer wieder auf Themen, die mich interessieren oder überraschen. Twitter und Instagram nutze ich vor allem zu Recherchezwecken. Zudem versuchen wir mit «Reflekt» immer gezielter, passende Inhalte für die einzelnen Kanäle zu produzieren.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Mein Medienkonsum hat sich kaum verändert. Bei der Arbeit war ich lange eingeschränkt und musste auch grenzüberschreitende Recherchen vom Schreibtisch aus vorantreiben. Dabei akzentuierte sich eine Frage, die mich schon länger umtreibt: Unter welchen Umständen können wir Auslandsreporter einen echten Mehrwert schaffen? Und wann ist es besser, ausschliesslich mit lokalen Kolleg:innen zusammenzuarbeiten, die ihr Land viel besser kennen?

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Vieles war besser und sehr vieles schlechter. Wir wissen alle, dass es mit der Finanzierung abwärts geht und immer mehr in immer kürzerer Zeit produziert werden muss. Die Qualität leidet und auch die Medienkonzentration macht mir Sorgen. Aber meine Generation hat die «gute alte Zeit» gar nie erlebt – wir sind eingestiegen, als sich die Branche bereits im Abstieg befand. Wir können daher befreiter nach vorne blicken. Denn dort, wo Journalismus noch finanziert wird, ist er meiner Meinung nach viel besser geworden. Unabhängiger, informierter, vernetzter und auch interessanter. Ich kann am Morgen mit einem Kollegen in Nigeria skypen und am Nachmittag die Inputs einer Kollegin aus Bangladesch einholen. Hinzu kommt ein nie dagewesener Zugang zu Informationen aus aller Welt. Weil wir diese Chancen nutzen wollen, statt zu jammern, haben wir das unabhängige Recherche-Team «Reflekt»  gegründet.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Natürlich, keine Frage!

Was soll man heute unbedingt lesen?

Puh, da gibt’s so vieles… Sicher weniger News und mehr längere Texte – am besten Sachbücher. Best Case ist, wenn sich eine Person seit Jahren mit einem Thema auseinandersetzt und das dann auch noch attraktiv aufbereiten kann. Zum Beispiel «Notes on a Nervous Planet» von Matt Haig, «The Lonely Century» von Noreena Hertz oder «Von der Pflicht» von Richard David Precht. Da lerne ich wirklich etwas über «die Welt», statt nur mit News-Stückelchen berieselt zu werden. Sowieso immer lesen sollte man den grossartigen George Orwell – von «Down and Out in Paris and London» über «Homage to Catalonia» und «Nineteen Eighty-Four» bis hin zu «Why I write» und der Artikel-Sammlung «Seeing things as they are».

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Früher konnte ich’s nicht, heute schon. Es gibt zu viele gute Bücher, als dass man seine Zeit mit schlechten verplempern sollte.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Meist im Gespräch mit Bekannten oder Unbekannten. Zudem folge ich auf Facebook und Twitter spannenden Menschen aus unterschiedlichsten Kontexten. Und ich liebe Buchtipps – auch wenn ich nicht alle empfohlenen Bücher zu Ende lese.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Keine Ahnung. Aber ob gedruckt oder nicht spielt für mich keine grosse Rolle. Viel wichtiger ist der Inhalt.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

In erster Linie eine Gefahr, ganz klar. Wenn das Vertrauen in die Medien sinkt, gefährdet das Sinn und Zweck unserer Branche. Die Chance sehe ich dort, wo Qualitätsmedien es schaffen, Vertrauen aufzubauen und quasi zur Fake News Barriere der Menschen zu werden. Doch dazu müssen wir das Publikum ernst nehmen und möglichst transparent und ergebnisoffen berichten.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Gar nicht.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ich nehme Informationen besser auf, wenn ich sie lese – daher war ich nie ein grosser Radiohörer und werde wohl auch nie zum Podcast-Fanatiker. Was mich fasziniert, sind investigative Podcast-Serien wie zum Beispiel «Verified» oder der Podcast «Wirecard: 1,9 Milliarden Lügen» der «Süddeutschen».

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Einerseits sollte man nicht vergessen, dass auch früher sehr viele junge Menschen keine bis wenig Medien konsumierten. Andererseits zeigt mir der Blick ins Ausland, dass die grossen Schweizer Redaktionen vergleichsweise träge sind. Viele Entwicklungen wurden verschlafen oder nur zögerlich umgesetzt – dass sich jüngere Menschen da nicht angesprochen fühlen, erstaunt mich nicht.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Herrn Supinos Job liesse sich bestimmt automatisieren – viel schlechter sähe das Resultat wohl nicht aus. Aber im Ernst: Automatisierung ist am einfachsten dort möglich, wo sich Abläufe und Inhalte wiederholen. Da ist der Journalismus keine Ausnahme. Wenn es aber darum geht, kreative Ideen zu entwickeln, aufwändige Recherchen zu realisieren und ferne Länder zu besuchen, braucht es uns Menschen wohl noch ein Weilchen.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Wie sollten heutige Medien ohne Digitalisierung funktionieren? Und welcher Journalismus wird wie genau wovon befreit? Solch generalisierenden Aussagen stehe ich sehr kritisch gegenüber.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Natürlich. So wie es auch in Zukunft noch Ärztinnen und Politiker braucht, wird es auch professionellen Journalismus geben. Falls dem nicht so wäre, hätte unsere Gesellschaft ein grösseres Problem.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ich schreibe fast alle Notizen von Hand, kann sie dann aber oft nur schwer entziffern. Völlig ineffizient, aber weil mir die Handschrift bei der Informationsaufnahme hilft, kann ich mich nicht davon lösen. Falls also jemand einen Tipp für ein handliches, digitales Notizbuch mit sehr guter Schrifterkennung hat: Nur her damit!

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Das dürften gerne Leute beurteilen, die sich mit Trump beschäftigen. Ich gehöre zum Glück nicht dazu.

Wem glaubst Du?

Menschen und Medien, denen ich vertraue. Generell gilt: Je mehr Fakten und je weniger Meinung jemand vorbringt, desto eher glaube ich.

Dein letztes Wort?

Wir Journalist:innen sollten uns nicht zu wichtig nehmen. Es geht um Inhalt – nicht um uns selbst.


Christian Zeier
Christian Zeier ist freier Auslandsreporter und redaktioneller Leiter des investigativen Recherche-Teams «Reflekt». Master in Soziale Probleme und Sozialpolitik an der Uni Fribourg, daneben Mitarbeit beim «Burgdorfer Tagblatt/Aemme Zytig» und später bei der «Berner Zeitung». Reportagen aus zahlreichen Ländern im Nahen Osten und auf dem afrikanischen Kontinent – darunter Somalia, Nigeria, Eritrea und Irak. Ausgezeichnet mit einem Zürcher Journalistenpreis (2020) und zwei Swiss Press Awards (2020, 2021).
www.christianzeier.ch | www.reflekt.ch


Basel, 18. August 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar, den aktuellen «Medienmenschen» einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman:
www.matthiaszehnder.ch/abo/

2 Kommentare zu "Christian Zeier: «Wir müssen das Publikum ernst nehmen und möglichst ergebnisoffen berichten»"

  1. Immer wieder neue Formate, Internetseiten oder Presseerzeugnisse kennen lernen und die Menschen dahinter durch den „Menschen und Medien-Fragebogen“ von Matthias Zehnder.
    Erfreulich die diesmalige Aussage von Chr. Zeier:
    «Wir Journalist:innen sollten uns nicht zu wichtig nehmen. Es geht um Inhalt – nicht um uns selbst.»
    Denn da gibt es leider genug Beispiele andersrum – der Inhalt ist sekundär; der Überbringer (Moderator, Reporter, Filmemacher) steht (zuviel) im Selbstinszenierungs-Zentrum und nervt wichtigtuerisch…..

  2. Sogenannte Alt-, Leit- oder Massenmedien scheinen journalistisch mehrheitlich kaum noch mehr als höchstens einen Unterhaltungswert zu haben. Total perspektivenlos finde ich es aber für unsere Welt, wenn auch sogenannte investigative Medien nichts mehr bewirken können.

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