Camille Roseau: «Fake News unterminieren das Vertrauen in Qualitätsmedien»

Publiziert am 17. November 2021 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Camille Roseau, Co-Marketingleiterin der Wochenzeitung «WOZ» und Co-Präsidentin des Verbands Medien mit Zukunft. Die gebürtige Französin sieht in der Schweizer Medienlandschaft «viele positive Signale, die sich aus der Bedeutungsverschiebung zwischen den Grossen und den Kleinen ergeben». Bedenklich findet sie die «allgemein die schlechten Arbeitsbedingungen, die Abwesenheit eines GAV, die schlechte Entlöhnung von freien Mitarbeitenden.» Sie setzt sich für ein Ja zum Medienförderpaket des Bundes, weil sie überzeugt ist, dass es «ohne Medien als Struktur für Finanzierung, Organisation und Vertrieb schwierig wird für den Journalismus». 

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Zu meinem Frühstück gehört der gedruckte «Tages-Anzeiger». Nach einem festgelegten Turnus teilen mein Mann und ich uns das Blatt, ich bekomme als erstes den Zürcher Lokalteil, er liest den Mantel. So haben wir die Kommentarebene des anderen jeweils vor der Lektüre schon im Ohr. Und dann tauschen wir. Unser kleiner Sohn kommentiert dazu die Bildebene, lesen kann er noch nicht. Sollte ich mehr Zeit haben, lese ich beim Frühstück auch die «WOZ», den «Spiegel», die «Titanic», «Le Monde diplomatique», das «P.S.», das «Migrosmagazin», im Zweifel auch die Publikation der Krankenkasse oder das Lustige Taschenbuch. Auf unserem Esstisch liegt immer sehr viel Gedrucktes, der Lesestoff geht zum Glück niemals aus. 

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram? 

Ich bin – wie viele vermutlich – eher eine passive Leserin als jemand, der jeweils Posts macht. Ich schaue mir regelmässig die Wortgefechte auf Twitter an und bin wahlweise fasziniert und abgestossen vom harschen Ton, von den Unterstellungen, von der irrigen Vorstellung, die von der Schweiz als gelenkter Demokratie besteht, vom geäusserten Misstrauen in Institutionen und so weiter. Manchmal wäre ich zudem froh, es gäbe die Reels auf Instagram nicht – mit der gesparten Zeit hätte ich problemlos eine neue Fremdsprache lernen oder die Werke der letzten zehn Nobelpreisträger:innen für Literatur lesen können.

Und wenn ich mal etwas vertwittere oder auf Instagram einen Post mache, sind das eher weniger Fun Facts aus meinem Leben oder besonders witzige Kommentare, sondern eher politische Hinweise auf Organisationen, die ich unterstütze oder Anliegen, die ich teile. Ein bisschen fad vielleicht also. 

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert? 

Im ersten Lockdown habe ich viel SRF gehört, die Durchsage «Bleiben Sie zuhause, dies ist ein nationaler Notstand» hat mich eher beruhigt als nervös gemacht, die Musik war tröstlich-vertraut, die Stimmen mit den jeweiligen Ansteckungsmeldungen sonor, viele Hits aus den 80ern, bloss nichts Aufregendes. Die Pandemie hat mich auch darauf gebracht, direkt Medienkonferenzen von Behörden anzuschauen, namentlich die Konferenzen des Bundesrats. Das Frage-Antwort-Spiel vom Bundesrat, Expert:innen aus Kommissionen und Medienschaffenden fand ich spannend. Ich bin ja im Verlag der «WOZ» beschäftigt, von daher hält sich meine Erfahrung mit Medienkonferenzen ziemlich in Grenzen. Die Konferenzen schaue ich jetzt nicht mehr, aber es kommt mir eher in den Sinn, mal auf den Seiten der zuständigen Behörden nachzuschauen, wenn mich etwas interessiert.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter? 

Ich bin ja «erst» seit 13 Jahren in der Schweiz, weiter zurück geht meine persönliche Erfahrung mit den Schweizer Medien nicht. Ich finde, es gibt viele positive Signale, die sich aus der Bedeutungsverschiebung zwischen den Grossen und den Kleinen ergeben. Nehmen wir das Beispiel expliziter Kapitalismuskritik: Früher eher ein Verkaufsrisiko für Medien, die in dieser Haltung schrieben, heute zieht die Haltung eher neue Abonnent:innen an. So erlebe ich es bei der «WOZ», bei der ich seit 2008 – dem Jahr der Finanzkrise – arbeite und die eine stetig wachsende Abokurve aufweist. Neue positive Impulse sehe ich in der Ecke der neuen und nicht ganz so neuen unabhängigen, kleineren Medien, die ich auch im Rahmen meiner Verbandstätigkeit näher kennengelernt habe. Bedenklich finde ich allgemein die schlechten Arbeitsbedingungen, die Abwesenheit eines GAV, die schlechte Entlöhnung von freien Mitarbeitenden. Ich hörte, das sei «ganz früher» anders gewesen. 

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Aber sicher!

Was soll man heute unbedingt lesen?

Möglichst viel, im Zweifel auch quer.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Schlechte Bücher mit vorhersehbaren Plots kann ich leider ganz schlecht weglegen, Bücher mit komplexeren Plots leider Gottes schon eher. 

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Eigentlich überall, in der Zeitung, im Radio, in diesem Internet, im Büro, an der Migroskasse und sonst überall im richtigen Leben.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Solange es noch Druckereien dafür gibt, gibt es auch gedruckte Tageszeitungen. Oder ist es umgekehrt?

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Ganz sicher eine Gefahr. Mir scheint, sie unterminieren bei einem Teil der Bevölkerung das Vertrauen in Qualitätsmedien und Institutionen, was beides nur schwer wiederherstellbar sein wird. 

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen? 

Radio ja, und viel. Musik, Nachrichten und Features. Auch mal eine Vorlesung oder ein Gespräch. Lineares Fernsehen eigentlich gar nicht mehr.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Das «Zeitzeichen» des WDR mit historischen Miniaturen aus 2000 Jahren Menschheitsgeschichte höre ich sehr gern, auch den «Krimipodcast» von SRF habe ich mit Begeisterung abonniert. Podcasts also eher zur Erbauung, könnte man sagen. Wobei: Mit grossem Interesse habe ich kürzlich «Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen?» angehört, bei dem ich viel über Fake News und Desinformation gelernt habe. Während des Podcasts ringt man quasi mit dem Autor Khesrau Behroz gemeinsam um das Thema und um eine Beantwortung der titelgebenden Frage.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Das ist natürlich höchst bedenklich, auch aus einer demokratiepolitischen Warte. Vermutlich ginge es für Medien darum, Themen und Formate zu bringen, die interessieren, ohne sich anzubiedern. Ich könnte mir vorstellen, dass dabei altersdurchmischte Redaktionen helfen könnten.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Manche Arbeitsschritte lassen sich sicher automatisieren, andere – wie zum Beispiel Recherche, Redigierarbeit, Gegencheck, Korrektorat – nicht. Ich frage mich, wie fehleranfällig automatisierte Prozesse sind und auch wie lesenswert das Ganze sein wird. Vermutlich denkt Herr Supino auch eher an die Kosten und an die Rendite des Konzerns als an vergnügte und gut informierte Leser:innen. 

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Die Digitalisierung hat sicher dazu geführt, dass das Geschäftsmodell vieler Medien massiv in Frage gestellt ist. Mein Eindruck ist, dass wir es schaffen müssen, die gesellschaftliche Rolle des Journalismus öffentlich wahrnehmbarer zu machen, damit die Medien überleben können. Ohne Medien als Struktur für Finanzierung, Organisation und Vertrieb wird es – glaube ich – schwierig für den Journalismus. Vielleicht braucht es in Zukunft auch Verleger:innen, die nicht wegen der grossen Rendite in dem Geschäft sind, sondern solche, die sich für publizistische Ziele wie die Informiertheit der Bevölkerung interessieren. 

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Die Welt wird immer komplexer, professionelle Einordnung braucht es also nach wie vor. Menschen, die sich für Hintergründe und Zusammenhänge interessieren, wird es auch in Zukunft geben. 

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja. Es hilft mir auch beim Begreifen von Sachverhalten, ich kritzele auch gern vor mich hin. Meine handschriftliche Agenda gibt meinem Alltag die erforderliche Struktur.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Für die Medien vermutlich gut, da er ein dankbares Objekt mit hoher Wiedererkennung und grossem Aufregungspotential ist. Zur Politisierung vieler Menschen hat er auch beigetragen, einfach als höchst abschreckendes Beispiel. Gesellschaftlich hat es mich schon schockiert, wie jemand der so offensichtlich und schamlos Lug, Trug, Unredlichkeit und Faulheit propagiert, eine solche Stellung erreichen kann. Ich habe häufig an amerikanische Grundschullehrer:innen gedacht mit der bangen Frage: Wie erklären sie ihren Schüler:innen, dass man nicht lügen, nicht schummeln, nicht angeben soll, wenn so ein Typ Präsident ist?

Wem glaubst Du?

Eigentlich den meisten Menschen, die ich so treffe. Manchmal muss ich das hinterher nochmals überdenken. 

Dein letztes Wort?

Die Eigentumsverhältnisse sind auch im Medienbereich eine ganz zentrale Frage. Genossenschaften kann ich einmal mehr nur empfehlen. 


Camille Roseau
Camille Roseau ist Französin und in Düsseldorf aufgewachsen. Sie betreut seit über zehn Jahren in Co-Leitung das Marketing der grössten Mediengenossenschaft der Schweiz, der Wochenzeitung «WOZ». Als Co-Präsidentin des Verbands Medien mit Zukunft setzt sie sich für den Erhalt der Medienvielfalt und eine faire Digitalisierung der Branche ein. Sie ist Präsidentin a.i. des Bündnisses für Recherche und Reportage, Verwaltungsrätin der Rotpunktverlag AG und Verwaltungsratspräsidentin der Radio Stadtfilter AG. Aktuell engagiert sie sich im Komitee «Ja zur Medienvielfalt» für das Medienförderpaket des Bundes, das am 13. Februar 2022 zur Abstimmung kommt.
https://www.woz.ch/


Basel, 17. November 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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