Calum MacKenzie: «Viele unterschätzen, wie gut die Digitalisierung dem Journalismus getan hat»

Publiziert am 26. Juli 2023 von Matthias Zehnder

Das 239. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Calum MacKenzie, Russland-Korrespondent von Radio SRF. Weil sein Visumsantrag für die Russische Föderation seit Monaten hängig ist, berichtet er von der Schweiz aus über Russland. MacKenzie informiert sich dafür vor allem über digitale Kanäle und sagt: «Wo wäre ich, wenn ich nicht über verschlüsselte Messenger mit meinen Kontakten in Russland kommunizieren könnte?» So halte er sich auf dem Laufenden über die «Stimmung in der russischen Bevölkerung und die Themen, die sie beschäftigen». «Bevor es diese Möglichkeiten gab, musste man sich damit begnügen, in der internationalen Ausgabe der ‹Prawda› zwischen den Zeilen zu lesen.» Und noch ein Vorteil: «ChatGPT (so höre ich) vergisst nie die grundlegendsten Fragen, wenn es einen Fragenkatalog für ein Interview zusammenstellen soll (was einem Menschen durchaus passieren kann).» Auch wenn MacKenzie also von der Digitalisierung profitiert, sieht er Grenzen: Letztlich müsse «der Journalismus die Welt für andere Menschen verständlich machen.» Dazu gehören für ihn auch «subjektive persönliche Einschätzungen».

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Zum Zähneputzen und Kaffeekochen höre ich gerne SRF 4 News, beim Kaffeetrinken kommt meist die App vom «Bund» hinzu. Zu meiner Scham muss ich zugeben, dass ich oft gleich nach dem Aufwachen schon durch Twitter scrolle.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Facebook ist eine Welt, die ich nicht mehr verstehe, aber die Plattform bleibt nützlich, um mit Menschen in fernen Ländern in Kontakt zu treten. Auf Instagram poste ich nur selten amateurhafte Fotos auf einem zur Bewahrung meiner eigenen Würde nicht öffentlich zugänglichen Account. Twitter ist für meinen Job sehr nützlich und ich verbringe viel Zeit darauf, auch wenn mich die Mehrheit der Posts dort schlicht nerven.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Was den Medienkonsum betrifft kaum, aber bei der Arbeit veränderte sich natürlich vieles. Es ist gut, dass es nun viel mehr Akzeptanz dafür gibt, von zuhause aus zu arbeiten und etwa Morgensitzungen noch aus dem Bett beizuwohnen. Aber ich habe auch gelernt, dass ich in einem Büro voller wachsamer Kolleginnen und Kollegen sein muss, um gewissenhaft arbeiten zu können.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Von einigen Leuten, die früher auch dabei waren, hört man das. Ich habe auch gewisse Änderungen zum Schlechteren erlebt, aber die Medien in der Schweiz machen (finde ich) gute Arbeit, sie bleiben lokal, national und international kritisch und erzählen packende, lehrreiche Geschichten. Zudem sind die Medien und ihre Angestellten in den letzten Jahren sicher etwas diverser geworden und bilden die vielfältige Bevölkerung besser ab, was positiv ist, auch wenn es da noch viel zu tun gibt.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Ja, ich sehe nicht, warum nicht. Sogar TikTok-Videos haben Untertitel, Romane kommen wohl nicht so schnell aus der Mode.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Unabhängige Medien aus Russland und den ehemaligen Kolonien Russlands. Und die Whatsapp-Nachrichten deiner Freunde, die du seit Wochen nicht angeschaut hast.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Bücher lese ich zu Ende, auch wenn das erst mehrere Jahre ist, nachdem ich mit ihnen angefangen habe.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Von Freundinnen und Freunden, in der Zeitung, im Radio, auf Wikipedia und auf Spotify-Playlists.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Gedruckte Medien wird es noch lange geben, aber Tageszeitungen … das erinnert mich daran, dass ich mein Abo noch verlängern muss.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Nach den Entwicklungen der letzten Jahre muss man wohl eingestehen, dass das Ganze sich eher weniger gut auf die traditionellen Medien ausgewirkt hat. Allerdings gibt es Fake News unter anderen Namen schon lange, und es gibt viele Leute da draussen, die die Medien gerade wegen der Fake News umso mehr schätzen (hoffe ich jedenfalls).

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Solange der Sender stimmt, ist das super. Radio höre ich gerne live, es gibt einige Sendungen, bei denen ich auf die Sendezeit warte.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ich war lange Podcast-Skeptiker. Aber inzwischen höre ich einige, vor allem aus pragmatischen Gründen, weil sie für die Arbeit sehr nützlich sind. Die Podcasts des unabhängigen russischen Mediums «Meduza» sind super («Chto Sluchilos’», halt auf Russisch, und «The Naked Pravda» auf Englisch). Der Russlandbeobachter Mark Galeotti hat auch einen sehr scharfsichtigen und angenehmen Podcast zum russischen Geheimdienst und den internen Machtspielen im russischen Staatsapparat («In Moscow’s Shadows»).

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Das verheisst wohl wenig Gutes, aber noch ist nicht alles verloren. Soweit ich verstehe, wird Medienkompetenz im Lehrplan inzwischen höher gewichtet, als ich noch in der Schule war. Und: Ich war vor nicht allzu langer Zeit selbst noch 29-jährig, und bei meinen gleichaltrigen Freundinnen und Freunden stelle ich durchaus noch ein Interesse an News fest. Letztlich wollen trotzdem die meisten Menschen wissen und verstehen, was in der Welt so geschieht.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Selbst ein Pietro Supino hat nicht immer recht, aber wir werden sehen. Künstliche Intelligenz kann für Journalistinnen und Journalisten bestimmt eine Hilfe sein. ChatGPT (so höre ich) vergisst nie die grundlegendsten Fragen, wenn es einen Fragenkatalog für ein Interview zusammenstellen soll (was einem Menschen durchaus passieren kann). Aber letztlich muss der Journalismus die Welt für andere Menschen verständlich machen können und dazu auch mal subjektive persönliche Einschätzungen machen. Die Roboter sind, glaube ich, noch nicht so weit.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Der Buchdruck hat vielleicht zum Tod der epischen Wandteppiche geführt, aber Erzählungen gehen weiter, auch im digitalen Zeitalter. Die Nachteile der Digitalisierung für die Medien sind bekannt und kriegen viel Aufmerksamkeit. Oft wird dabei übersehen, wie viel die Digitalisierung im journalistischen Alltag ermöglicht hat. Gerade ich wäre aufgeschmissen ohne die Technologie von heute: Ich berichte über Russland, aber das russische Aussenministerium ist nicht gewillt, mir eine Akkreditierung auszustellen und mich ins Land reinzulassen. Der Blick von aussen nach innen erfolgt fast ausschliesslich über digitale Kanäle. Wo wäre ich, wenn ich nicht über verschlüsselte Messenger mit meinen Kontakten in Russland kommunizieren könnte? So halte ich mich nämlich über die Stimmung in der russischen Bevölkerung und die Themen, die sie beschäftigen, auf dem Laufenden. Bevor es diese Möglichkeiten gab, musste man sich damit begnügen, in der internationalen Ausgabe der Prawda zwischen den Zeilen zu lesen. Ich glaube, von vielen wird unterschätzt, wie gut es dem Journalismus getan hat, dass diese Zeiten vorbei sind.   

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Es ist sicher gut, wenn die Politik erkennt, dass die Medien eigentlich etwas Gutes sind.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Als ich noch bei der Zeitung gearbeitet habe, habe ich viele Interviewnotizen von Hand gemacht. Jetzt schreibe ich vor allem Postkarten. Ich müsste mal prüfen, ob ich die Schnürlischrift oder die kyrillische Handschrift noch beherrsche.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Es gibt die Ansicht, Trump sei der beste Twitterer aller Zeiten gewesen (was mehr über Twitter aussagt als über ihn). In der Welt der Fiktion hat er neue Ufer betreten. Aber inhaltlich waren seine Aussagen von Anfang seiner Politkarriere an komplett widerlich, immer wieder auch rassistisch. Viele Medien haben sich selbst geschadet, indem sie diese regelmässig und unkritisch weiterverbreitet haben. Da muss sich die Branche gewisse Fragen stellen. Trump ist ja nicht weg, im Gegenteil, er hat viele Nachahmer und wird noch viele haben.

Wem glaubst Du?

Menschen, die ihren Verstand anwenden und sich auch selbst hinterfragen.

Dein letztes Wort?

Hinterfragt sicher auch das, was ich da gerade hingekritzelt habe.


Calum MacKenzie
Calum MacKenzie studierte in Zürich, Bern und Moskau Osteuropastudien. Von 2017 bis 2022 arbeitete er in der Lokalredaktion des «Bund», seit 2022 beleuchtet er als Korrespondent bei Radio SRF die Geschehnisse in Russland, Belarus, Kaukasus und Zentralasien. Weil MacKenzies Visumsantrag für die Russische Föderation – wie bei vielen westlichen Medienschaffenden derzeit – seit Monaten hängig ist, berichtet er vorerst vor allem aus der Schweiz.
https://www.srf.ch/news


Basel, 26. Juli 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Seit Ende 2018 sind über 230 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

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5 Kommentare zu "Calum MacKenzie: «Viele unterschätzen, wie gut die Digitalisierung dem Journalismus getan hat»"

  1. Herr Calum MacKenzie äussert sich zaghaft positiv zu der Medien-Förderung.
    Und dem normalen Bewohnenden der Schweiz stellen sich dabei Fragen: Hier die vielen darbenden Branchen, dort die Medienindustrie welche repetiv ins Bundeshaus pilgert, um Staats- sprich Steuergeld zu erbetteln.
    U. a. fordert am vehementesten die Ringier-Familie und die Wanner-Familie Geld.
    Doch dann sieht der normale Bewohnende der Schweiz solche Interviews und Talks (direkt vom Schloss und hoch vom Turm des „Bickguets“ ob Würenlos), dem Herrensitz der Wanners:

    https://tv.telezueri.ch/sommertalk/verlegerfamilie-wanner-so-verstehen-sich-brueder-und-vater-privat-152125892

    Sonnenkönig, feudal, pompös, herrschaftlich, erhaben und unverschämt superreich als Bettelnder. Irgendwie alles ungereimt und unpassend – oder liege ich da falsch?…..

    1. Ich weiss nicht, was Sie immer mit Ihren «darbenden Branchen» haben. Die Schweizer Wirtschaft wächst munter, die meisten Handwerker haben übervolle Bücher, es ist im Gegenteil heute so, dass man für viele Arbeiten lange Wartefristen einrechnen muss. Umgekehrt verliert die Schweizer Medienbranche seit Jahren sowohl im Werbemarkt, wie auch im Nutzermarkt. Und zwar nicht an die böse SRG, sondern an die grossen amerikanischen Netzwerke. Medien werden seit Jahrzehnten gefördert (indirekte Presseförderung). Kostenpunkt: 50 Millionen Franken im Jahr. Zum Vergleich: In die Landwirtschaft fliessen 2,8 Milliarden Franken. Jetzt können Sie selbst beantworten, wer da darbt und wo die Sonnenkönige sitzen…

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