Bettina Hamilton-Irvine: «Gedruckte Zeitungen sind wie Schallplatten»

Publiziert am 18. Februar 2021 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute: Bettina Hamilton-Irvine, Chefin vom Dienst und Co-Leiterin Inland bei der Republik. Sie sagt, die Flut an Nachrichten und der viele Schrott im Internet habe dazu geführt, dass «Medien sehr sorgfältig überlegen müssen, wie sie das Vertrauen ihrer Leserinnen gewinnen und diesen einen Mehrwert bieten können, indem sie filtern, einordnen, vertiefen, erklären.» Sie habe sich immer vorgestellt, dass «gedruckte Zeitungen mit der Zeit zu einem Nischen-Produkt für Liebhaber werden, eine Art Luxus-Edition für Nostalgiker, vergleichbar vielleicht mit Schallplatten.» Wenn sie aber heute sehe, wie «die grossen Verlage ihre Printausgaben aushöhlen, das Personal wegsparen oder vergraulen, das Vertrauen verspielen, indem sie das Korrektorat streichen oder ihre Leserinnen mit Native Ads täuschen», dann frage sie sich schon, wie viel Zukunft Tageszeitungen noch haben.

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Unter der Woche habe ich während dem Frühstück keine Zeit für Medienkonsum: Da ist mein Ziel vor allem, sicherzustellen, dass sich unsere Tochter das Porridge nicht in die Haare streicht und wir nicht zu spät in die Kita kommen. Entweder vorher oder spätestens, wenn ich mit der Arbeit beginne, schaue ich in der Regel online bei der «Republik», bei «Tages-Anzeiger», NZZ und Twitter, oft auch beim «Guardian» und der «New York Times» vorbei. Am Wochenende liegt die «NZZ am Sonntag» auf dem Frühstückstisch.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Facebook nutze ich fast nur privat, aber je länger, desto weniger. Und weil mir der Umgang der Plattform mit unseren Daten immer unsympathischer wird, trage ich mich nach bald 15 Jahren mit dem Gedanken, ihr den Rücken zu kehren. Twitter nutze ich als Informationsquelle täglich, aber nicht exzessiv. Ich schätze es, dass ich dort oft auf Inhalte stosse, die ich sonst nicht gefunden hätte. Auf den Instagram-Zug bin ich nie aufgesprungen. Ich habe zwar einen Account, logge mich aber kaum je ein.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Stark. Dass wir bei der Republik den Laden auch ohne grosse Anpassungen aus dem Homeoffice schmeissen können, ist zwar erfreulich. Trotzdem fehlt mir der persönliche Austausch auf der Redaktion, das informelle Gespräch an der Kaffeemaschine, im Gang, beim Mittagessen. Und für mich als Ressortleiterin braucht es deutlich mehr Aufwand und Zeit, um das Team zusammenzuhalten: Um zu spüren, wer wo steht und wer welche Art von Unterstützung braucht, bin ich viel häufiger am Telefon als sonst.

Zudem dominiert Corona natürlich thematisch sehr stark. Die Frage, wie viel und welche Art von Corona-Berichterstattung unsere Leserinnen brauchen, beschäftigt uns täglich.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Weder noch. Besser war sicher, dass der Zeit- und Spardruck kleiner war früher – guter Journalismus braucht Spielraum. Dafür musste sich eine Zeitung, als sie noch nicht vom Internet konkurriert wurde, viel weniger Gedanken darüber machen, wie sie ihre Leser bestmöglich abholt: Es reichte, Informationen zur Verfügung zu stellen. Heute hat die Flut an verfügbaren Nachrichten und der viele Schrott im Internet auch dazu geführt, dass Medien sehr sorgfältig überlegen müssen, wie sie das Vertrauen ihrer Leserinnen gewinnen und diesen einen Mehrwert bieten können, indem sie filtern, einordnen, vertiefen, erklären. Das steigert die Qualität.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Auf jeden Fall. Egal, ob auf Papier oder einem Bildschirm: Text hat etwas Verlässliches.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Alles, was etwas hinterlässt und uns weiterbringt: Journalismus, der Macht hinterfragt und hilft, Zusammenhänge zu verstehen. Sachbücher, die uns einen Teil der Welt erklären. Und natürlich Literatur, die uns berührt, inspiriert und in andere Welten entführt.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Meine Zeit war mir schon immer zu schade für schlechte Bücher. Umso mehr, seit ich ein Kind habe: Meine sehr knapp bemessene freie Zeit will ich möglichst gewinnbringend verbringen. Für schlechte Bücher hat es da keinen Platz.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

In Magazinen wie der Republik, dem Reportagen-Magazin, dem New Yorker, Higgs oder Geo, in Podcasts, in Bücherläden, bei der Recherche, in Dokumentarfilmen, im Gespräch mit Freunden und Bekannten.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Sicher noch eine ganze Weile. Ich habe mir immer vorgestellt, dass gedruckte Zeitungen mit der Zeit mehr zu einem Nischen-Produkt für Liebhaber werden, eine Art Luxus-Edition für Nostalgiker, vergleichbar vielleicht mit Schallplatten. Wenn ich heute aber sehe, wie die grossen Verlage ihre Printausgaben aushöhlen, das Personal wegsparen oder vergraulen, das Vertrauen verspielen, indem sie das Korrektorat streichen oder ihre Leserinnen mit Native Ads täuschen, dann frage ich mich schon, wie viel Zukunft dieses Modell noch hat.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Beides. Sie sind natürlich eine Gefahr für die Gesellschaft – vor allem dann, wenn sie politisch motiviert sind und in grossem Stil in Trollfabriken entstehen. Für die Medien können sie auch eine Chance sein, weil in der ganzen, grossen Verwirrung von Fake News, Halbwahrheiten, ungeprüft übernommenen Nachrichten und PR seriöse, verlässliche Informationsquellen immer wichtiger werden. Damit die Leserinnen Medien vertrauen, müssen diese transparent und ehrlich sein, ihre Prozesse und Quellen offenlegen, Fehler zugeben und korrigieren und ihrer Leserschaft im Dialog auf Augenhöhe begegnen.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Beides spielt in meinem Leben kaum mehr eine Rolle. Zu Hause haben wir nicht einmal mehr einen Fernsehanschluss.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ich liebe Podcasts. Zu meinen Favoriten gehören «Science Vs», der Alltagsfragen wissenschaftlich untersucht, «No Stupid Questions» des Freakonomics-Autors Stephen Dubner und der Psychologieforscherin Angela Duckworth oder «99% invisible» über Städte, Stadtplanung und Entwicklung. Ich höre auch gern «Echo der Zeit» oder «The Daily Show» über Podcast.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Das ist beunruhigend. Problematisch daran ist vor allem, dass die News-Deprivierten in dieser Altersklasse ihre Informationen vor allem über Social Media beziehen und oft wenig Ahnung davon haben, wie man glaubwürdige von Fake-News-Quellen unterscheidet. Wichtig ist, dass sie von den Medien nicht einfach abgeschrieben werden. Man muss versuchen, sie dort zu erreichen, wo man kann – beispielsweise auf Social Media. Bei der Republik empfangen wir zudem gerne Schulklassen für Führungen oder beteiligen uns an Medien-Projektwochen in Schulen. Dabei stellen wir immer wieder fest, dass Jugendliche durchaus interessiert sind an Nachrichten und Medien. Man muss sie nur richtig abholen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Nein. Wer das glaubt, hat Journalismus nicht verstanden.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Die Digitalisierung hat den Journalismus enorm verändert, so viel ist klar. Ich sehe sie aber mehr als Chance denn als Bedrohung: Noch nie war es einfacher, Menschen zu erreichen. Und noch nie war das Bedürfnis nach Einordnung, Erklärung und Vertiefung grösser.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Professionellen, qualitativ hochstehend Journalismus braucht es mehr denn je, das steht für mich ausser Frage. Klären müssen wir, wie wir diesen finanzieren. Denn guter Journalismus kostet.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ich trage immer mein Moleskin-Notizbuch mit mir herum und mache mir in Gesprächen und Sitzungen Notizen darin. Auch meine vielen handgeschriebenen To-Do-Listen befinden sich dort drin. Ich schreibe auch noch gelegentlich Briefe und Karten von Hand, aber im Vergleich zu früher deutlich weniger.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Vieles war schlecht: Er hat kritische Medien oder Journalisten von den Press Briefings ausgeschlossen und ihnen den Zugang zu Informationen erschwert. Er hat viele seiner Anhänger davon überzeugt, dass Medien gekauft sind, dass sie lügen und Propaganda verbreiten. Er hat Journalistinnen sexistisch beschimpft. Gleichzeitig sind Medien auch zur Höchstform aufgelaufen: Sie haben ihm die Stirn geboten, alles kritisch hinterfragt, seine Lügen entlarvt. Vielen hat das auch Zulauf gebracht.

Wem glaubst Du?

Denen, die mir Grund geben, ihnen zu glauben.

Dein letztes Wort?

The truth will set you free, but first it will piss you off. (Gloria Steinem)


Bettina Hamilton-Irvine
Bettina Hamilton-Irvine (42) ist Chefin vom Dienst und Co-Leiterin Inland bei der Republik. Daneben unterrichtet sie Journalismus an der Uni Freiburg und am MAZ in Luzern. Journalismus studierte sie an der Queensland University of Technology in Brisbane, Australien. Danach war sie fast zehn Jahre für CH Media tätig, zuletzt als Chefredaktorin der Limmattaler Zeitung. Bettina Hamilton-Irvine lebt mit ihrem Partner und ihrer zweijährigen Tochter in Zürich.
https://twitter.com/hamiltonirvine
https://www.republik.ch/


Basel, 18. Februar 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar, den aktuellen «Medienmenschen» einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman:
www.matthiaszehnder.ch/abo/

 

2 Kommentare zu "Bettina Hamilton-Irvine: «Gedruckte Zeitungen sind wie Schallplatten»"

  1. Anstatt „Journalismus, der Macht hinterfragt und hilft, Zusammenhänge zu verstehen.“ begegnen mir fast nur noch Medien, die gross Mächtige aufs Podest stellen, super Reichen huldigen und Zusammenhänge selber nicht zu verstehen scheinen.

    1. Antwort:
      Ein superber Kommentar von Ueli Keller (wie immer).
      Ich empfinde für mich – deshalb möchte ich dies noch beifügen – wie medial EINSEITIG den Mächtigen, Super-Reichen gehuldigt wird und Zusammenhänge WOLLEN gar nicht mehr verstanden werden. Denn:
      Der Absender irgendwelchen Tuns ist viel wichtiger als der Inhalt. Hat eine Tat, Idee, Initiative oder gar Wohltätigkeit das falsche ETIKETT, wird ignoriert, verdreht oder Lückenhaft berichtet.
      Ganz Extrem in der Schweiz bei der Parteienlandschafts-Berichterstattung; und international ist sogar Deutschen Medien aufgefallen: US-Präsident Biden wird kaum kritisiert! Alles was er macht ist voll in Ordnung – bei den Medien…. heisst es weiter.
      Dabei schickt er Flugzeugträger nahe Chinesischer Gewässer, bestückt mit einiges an zerstörerischem „Material“; Moses Biden schickt Flugzeugträger in die Nähe Russischer Gewässer, stockt da und dort weltweit seine Stützpunkte auf…..
      Alles voll OK – Zusammenhänge, Hinterfragen, Überlegungen anstellen – Da läuft nichts. Denn:
      Auf den Absender kommt es ja an……

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.