Barbara Gysi: «Meinungsvielfalt gibt’s nicht gratis – weder zeitlich noch finanziell»

Publiziert am 8. Mai 2019 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview mit Barbara Gysi, publizistische Leiterin von Radio SRF 2 Kultur, über ihren persönlichen Mediengebrauch, ihren Umgang mit sozialen und anderen Medien sowie Zustand und Zukunft des Journalismus in der Schweiz. Sie sagt, Medien sinnvoll und effektiv zu nutzen, sei heute eine echte Herausforderung geworden, weil man angesichts des riesigen Angebotes bewusst auswählen müsse und warnt: «Sobald die Finanzierung von Journalismus globalen Unternehmen überlassen wird, fürchte ich um die professionelle Berichterstattung.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Beim Aufstehen gehört Radio ganz selbstverständlich dazu; auf dem Weg zur Arbeit folgt dann im Zug das volle digitale Programm: Zeitungen, Socials, Sendungen nachhören etc. Das Frühstück folgt dann erst gegen Mittag.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Dreimal täglich: Twitter nutze ich als Informationsmedium, bei dem ich immer wieder auf interessante Themen und Artikel stosse; Facebook ist in meinem Gebrauch ein Medium zwischen Unterhaltungsinfo, hilfreichen Veranstaltungshinweisen und bisweilen ein Tor in Welten, die mir sehr fremd sind.

Es passiert etwas ganz Schlimmes wie 9/11. Wie informierst Du Dich?

Da verhalte ich mich wohl wie jeder andere an Informationen interessierter Mensch: Der erste Griff gilt den schnellen Medien wie Radio, Social Medias, den Online-Angeboten von SRF, der ARD-Tagesschau und ausländischen Anbietern. Den Zwischenschritt minütlicher Updates lasse ich dann aber weg; ich beschäftige mich mit dem Thema erst wieder, wenn einordnende Hintergrund-Informationen verfügbar sind.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Medien sinnvoll und effektiv zu nutzen, ist heute eine echte Herausforderung geworden, weil man angesichts des riesigen Angebotes bewusst auswählen muss. Doch die Möglichkeit, bei Bedarf schnell an fast alle gewünschten Informationen zu gelangen, ist ein riesen Fortschritt der Digitalisierung. Als Mediennutzerin muss man heute dadurch mehr Zeit investieren, um sich eine verlässliche Meinung bilden zu können.

Anders sieht es bei den Bedingungen der Journalisten-Arbeit aus: hintergründige Recherchen sind kostspielig, und immer weniger Medienkonsument/innen sind bereit, dafür zu bezahlen. Wobei das Pekuniäre nur ein Teil der Realität ist. Zunehmend höre ich selbst von interessierten, gebildeten Menschen, dass sie gar nicht mehr über die Zeit verfügen, um sich länger mit einem Thema auseinanderzusetzen. Eine fatale Spirale, in mehrfacher Hinsicht!

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Aber sicher! Mir fehlt die Vorstellungskraft, wie unsere Welt aussehen würde, wenn wir nur noch via implantierten Chip, sozusagen intravenös, Informationen und Romane digital eingetröpfelt bekommen würden. Das geschriebene Wort ist für mich unerlässlich für Reflexion.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Gute, interdisziplinäre Geschichtsbücher, weil sie unser heutiges Handeln und Denken in einen grösseren Zusammenhang stellen und nicht selten auch relativieren.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Jedes Buch erhält bei mir eine zweite Chance! Umso mehr, als ich gerne auf Empfehlungen von Freunden und Fachleuten höre. Doch wenn’s beim zweiten Versuch nicht klappt, dann kommt das Buch in die zweite Reihe.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Bei persönlichen Begegnungen, auf Plakaten und in Werbeanzeigen, in Ausstellungen…

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Kann ich schwer abschätzen: gedruckte Tageszeitungen sind dem analogen Untergang wohl schneller geweiht als Fach- und Hintergrundzeitschriften, die man über den Tag hinaus liest.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Fake News können sich dann als eine Gefahr für die Gesellschaft herausstellen, wenn nicht klar ist, wer diese steuert, sprich finanziert, und welche Interessen sich dahinter verbergen. So können insbesondere in Social Medias Fake-«Wahrheiten» geschaffen werden, die für die Nutzer schwer durchschaubar sind. Allerdings ist auch klar, dass es zweifelhafte Nachrichten bereits früher gab, bloss war vor der Digitalisierung deren Wirkungsradius beschränkt.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Kommt kaum mehr vor. Das Radio- und TV-Angebot nutze ich gezielt und on demand.

Welche Rolle spielt die Musik im Radio im Zeitalter von Spotify, Apple Music und Idagio?

Für gewisse Generationen nach wie vor eine grosse. Wobei Radio nicht gleich Musik, sondern Musik + Moderation + Mood + Infos bedeutet. Ist jemand ausschliesslich an Musik interessiert, dann bieten Streaming-Dienste eine gute Dienstleistung (ich spreche da auch als Musiknerd); möchte ich jedoch darüber hinaus begleitet werden, dann hat Radio die Nase vorn.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Täglich zwei bis drei Podcasts – einerseits berufsbedingt, aber auch aus Interesse. Lieblingspodcasts habe ich keine, ich wähle nach Thema.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 53 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Wie wohl dieselbe Studie in den 70er oder 80er Jahren ausgefallen wäre? Gelegentlich bereitet mir die Gratiskultur, in der viele junge Menschen aufwachsen, Sorgen. Meinungsvielfalt bildet die Basis dafür, dass man sich eine eigene Meinung bilden und letztlich danach handeln kann. Und Meinungsvielfalt gibt’s nicht gratis – weder zeitlich, noch finanziell gesehen. Andererseits verfügen die jüngeren Menschen über völlig neue Skills, und ich gehe optimistischerweise davon aus, dass sich die jungen Menschen sehr wohl Mechanismen aneignen (werden), um sich unabhängige Meinungen bilden zu können.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Der Agentur-Journalismus wird dank KI früher oder später automatisch generiert. Investigativer Journalismus hingegen lässt sich wohl kaum roboterisieren.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Solange es Leute gibt, die an eigenständigen, d.h. nicht auf wenige Zeichen verkürzten Informationen interessiert sind und bereit sind, dafür zu bezahlen, wird es professionellen Journalismus geben. Doch sobald die Finanzierung von Journalismus globalen Unternehmen überlassen wird, fürchte ich tatsächlich um die professionelle Berichterstattung.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Regelmässig, auch wenn ich gelegentlich meine eigenen Notizen nicht mehr vollständig entziffern kann!

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Das Positive an dem unberechenbaren Handeln des amerikanischen Präsidenten ist die Debatte, die er ausgelöst hat: Heute wird anders und intensiver über die Funktion der Medien diskutiert als noch vor wenigen Jahren. In vielen Bevölkerungskreisen ist dadurch das Bewusstsein für unabhängige Berichterstattung gewachsen.

Wem glaubst Du?

Ich glaube nicht, ich versuche mir bei relevanten Themen eine Meinung zu bilden, indem ich möglichst verschiedene Medien konsumiere, Fachzeitschriften lese und interessanten Menschen zuhöre.

Dein letztes Wort?

Dafür ist es noch zu früh.


Barbara Gysi

Barbara Gysi, 55, hat Musikwissenschaft, Publizistik und Germanistik studiert. Sie startete mit 16 Jahren im Print (Luzerner Neuste Nachrichten) und mit einer wöchentlichen Klassik-Sendung bei Radio Sunshine. Die Mitarbeit hinter und vor der Kamera beim Pilotprojekt Zuger Regionalfernsehen vervollständigte die frühe trimediale Erfahrung in den 80er Jahren. Seit den 90er Jahren arbeitet sie in verschiedensten Funktionen bei SR DRS bzw. Schweizer Radio und Fernsehen SRF, als Gesamtprojektleiterin bei der Digitalisierung der Radioprogramme bis zur aktuellen Funktion als Bereichsleiterin Radios & Musik der Abteilung Kultur SRF und als publizistische Leiterin von Radio SRF 2 Kultur.

https://www.srf.ch/radio-srf-2-kultur/


Basel, 8. Mai 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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