Ariane Tanner: «Digitale Medien nicht auf nüchternen Magen»

Publiziert am 25. November 2020 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute: Historikerin und Texterin Ariane Tanner. Sie sagt, früher habe Journalismus mehr Zeit gehabt. «Der Anspruch auf Information wurde irgendwann einmal durch ‹News› abgelöst und der solide Background völlig vernachlässigt.» Statt Hintergrund müsse heute «eine Story» her. «Das führt der Tendenz nach dazu, dass journalistische Erzeugnisse sich werbetechnischer Mittel bedienen, die sie dann wiederum selbst in die Nähe von Werbung rücken.» Trotzdem sei es falsch, ein nostalgisches Bild des Journalismus heraufzubeschwören. «Die gut begründete Kritik an den heutigen Medien rührt nicht daher, dass früher alles besser war.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Eine Tageszeitung. Momentan immer noch der «Tagi» – zum Durchblättern und weil es gegen niedrigen Blutdruck hilft. Digitale Medien nicht auf nüchternen Magen.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Bezüglich Facebook und Instagram: komplett erfahrungsfrei. Auf Twitter leide ich: Nur mit Klugem ist kein Follower-Staat zu machen, Alltag mag ich nicht teilen; viele sondern ab, kaum jemand liest, das männliche Gekabbel in der Timeline nervt. Lea Haller sagte einmal hier, sie sehe es nicht so pessimistisch wie andere, dass Zuneigung und Anerkennung auf Twitter nur virtuell daherkämen, schliesslich tröste man sich mit Likes und Herzchen gegenseitig über die eigene Sterblichkeit hinweg. Aber was, wenn man so wenige Herzchen kriegt wie ich?

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Einerseits gab es einen Backlash mit Live-Übertragungen von bundesrätlichen Pressekonferenzen am Fernsehgerät nachmittags um 15 Uhr und mit DVDs aus der Pestalozzi-Bibliothek von «alten Schinken». Andererseits mehr Digitales: Online-Medien für Tagesaktuelles, SRF Corona-News-App, Online-Scrabble während des Lockdowns als Fernspiel etc. Der Grundstock an vielfältigen Online- und vor allem Printmedien blieb sich jedoch gleich; die Altpapiersammlung hat bei uns viel zu tun.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Journalismus hatte mehr Zeit. «Live-Ticker» zu Coronatoten? Kompletter Schwachsinn. Der Anspruch auf Information wurde irgendwann einmal durch «News» abgelöst und der solide Background (SDA zum Beispiel) völlig vernachlässigt. Wenn es heute noch ausführlicher werden soll, dann muss meist eine «Story» her. Das führt der Tendenz nach dazu, dass journalistische Erzeugnisse sich werbetechnischer Mittel bedienen, die sie dann wiederum selbst in die Nähe von Werbung rücken.

Gleichzeitig finde ich es auch schwierig, ein nostalgisches Bild des redlichen (männlichen) Journalisten heraufzubeschwören, der mit Ärmelschonern bewehrt bei schlechtem Lampenlicht bis spätnachts die neusten Nachrichten aus der weiten Welt für die Leserschaft aufbereitet. Die sozialen Medien, die Online-Möglichkeiten und die heutige Formenvielfalt von Nachrichten haben ein ganzes Berufsfeld umgewälzt. Die gut begründete Kritik an den heutigen Medien rührt nicht daher, dass früher alles besser war.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Ja.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Raymond Queneau, «Exercices de style».

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Zum Glück habe ich vor einigen Jahren das Weglegen gelernt. Ich trage diese Bücher zu einem «Bring eins – Nimm eins»-Ort.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Bei Freund*innen.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Die NZZ noch 2 Jahre und 268 Tage, das «Tagi-Magi» noch 3 Jahre und 313 Tage, falls der 313. Tag auf einen Samstag fällt.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Eine Gefahr. Weil sie genau diese Entweder-Oder-Fragen mit sich bringen und überall einen Konjunktiv unterjubeln. «Es ist so. Es könnte auch anders sein.» Die Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny hat dies in einem Buch mit gleichnamigem Titel bereits 1999, sozusagen in der Morgendämmerung des Social-Media-Fake-News-Zeitalters, beschrieben. Es steht aber entschieden nicht alles zur Debatte. In dem Sinne gibt es tatsächlich einen «Fortschritt» im Wissen, der sich aber nicht Fortschritt nennt, sondern begründete Erfahrung. Es gibt Facts.

Der Erfolg von Fake News ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Zerstörung viel weniger aufwändig ist als Aufbau.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Ausser Snooker-Spielen als meditative Praxis schaue ich mir nichts live an.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ich bin am Lernen! Ich erhalte Empfehlungen, ich übe noch. Aber ich weiss auch schon, was ich nicht mag: Podcasts, die eineinhalb Stunden lang sind, weil sie eineinhalb Stunden lang sein können.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Mhm… suggeriert das auch, dass diese Menschen als unpolitisch gelten? Denn das sind sie ja ganz offensichtlich nicht. Vielleicht erhalten sie von den Medien einfach nicht das Futter, das sie brauchen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Pietro Supino hinkt seiner Zeit hinterher. Im Jahre 1960 hat bereits der Schriftsteller Primo Levi den perfekten Berichterstattungs-Apparat eingeführt. Sollten Roboter tatsächlich jemals serienmässig im «Tages-Anzeiger» eingesetzt werden, dann wäre das Resultat vermutlich genau das: robotergeschriebene Artikel, also ernüchternde Schreibe, die nicht halb so intelligent wie Levis Erzählung ist.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

In erster Linie hat die Digitalisierung mal zu einer Überforderung geführt: Kadenz der Nachrichtengenerierung, Selbstüberholung der eigenen Produktionsprozesse (Newsroom, Live-Ticker, Likes und Klickzahlen), Bildstrecken statt Texte, Liebäugeln mit Formaten, die man technisch und auftrittskompetenzmässig nicht beherrscht (Videos, Podcasts, selbst vorgelesene Texte…), Ausufern der Gedankengänge mangels Zeilenbegrenzung. Was hat denn bis heute dabei herausgeschaut: Gibt es einen grundsätzlich anderen Journalismus in der Schweiz, ist er befreit? Hat es mehr Frauen als Haupttexterinnen gebracht? Wurden die Redaktionen diverser? Noch bezweifle ich das sehr.

Wer das werbefreie Bezahlmedium «Republik» von Project R seit 2018 mitverfolgte, konnte sehen, dass die Digitalisierung aus wirtschaftlicher Sicht extrem Sinn macht (zum Beispiel wurde der Quellcode öffentlich gemacht), gleichzeitig aus redaktioneller Sicht auch die Gefahr der Verzettelung in den Themen und Formaten mit sich bringt. Grundsätzlich ist dieses Online-Magazin jedoch für die Schweiz ein ganz wichtiger und neuerdings auch selbsttragender Testfall für ein neues Geschäftsmodell im Journalismus. Und wenn die «Republik» genügend Geld hat, um zu experimentieren – wer sollte denn sonst experimentieren? Vielleicht erweist sich das ja tatsächlich als zukunftsträchtiges Modell für den Journalismus: Autorschaft statt Redaktion.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ja, den sehe ich. Die «WoZ» ist damit zum Beispiel mit sehr hoher Konstanz erfolgreich. Und es gibt einen Markt, es gibt Menschen, die zahlen wollen für ihr informatives, manchmal sogar werbefreies Lesevergnügen. Damit professioneller Journalismus aber auf Jahrzehnte hinaus überleben kann, muss er die gesellschaftspolitischen Gründe dafür selber mitgestalten.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Sowieso. Notizen, Mindmaps, Tagebuch, manchmal Briefe. Ich kann besser denken, wenn ich notiere.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Das ist wieder so eine Entweder-oder-Frage. Trump war natürlich schlecht für die Medien. Und man muss jetzt «war» hinschreiben, weil er abgewählt wurde, weil Biden gewonnen hat. Was aber tun die Medien? Tamedia zum Beispiel weiss am 7. November 2020, dem Tag der offiziellen Wahlbestätigung von Biden, auf ihrer News-App nichts Besseres zu schreiben als «Ist Bidens Wahl für die Schweiz eine gute Nachricht? Oder fuhr unser Land mit Trump besser?» (Danke @do_gross für das kritische Vertwittern; ich räume deshalb ein: Twitter hat auch sein Gutes).

Trump hat die Glaubwürdigkeit der Medien in den USA und auch in europäischen Ländern nachhaltig zu untergraben geschafft und alle in die Pfanne gehauen, die ihr journalistisches Handwerk als demokratisches Werkzeug verstanden. Also verdammt: Feiert Biden/Harris! Wenigstens 48 Stunden lang! Holt Euch Euren Auftrag wieder zurück. (Aber ich schreibe schon fast wieder einen halben Artikel für unser medienkritisches Kollektiv «kontertext».)

Wem glaubst Du?

Ist das eine ernste Frage? Ich glaube, dass Agnostizismus eine gute Variante ist, durchs Leben zu kommen.

Dein letztes Wort?

«Topfpflanzen bitte gehts spazieren!» (Josef Hader)


Ariane Tanner
Ariane Tanner ist Historikerin und Texterin. Sie hat sich auf die Wissenschaftsgeschichte, Umweltgeschichte und Erinnerungskulturen spezialisiert. Als Mitglied der Gruppe «kontertext» publiziert sie seit 2016 auf der Plattform Infosperber regelmässig Medienbeobachtungen zu Ökologie, Wissenschaft und Gesellschaft, Klima, Anthropozän und Gender. Seit ihrem PhD mit einer wissenschaftshistorischen Arbeit an der ETH (erschienen 2017: «Die Mathematisierung des Lebens», Mohr Siebeck: Tübingen) war sie als Dozentin und Projektleiterin in verschiedenen partizipativen und transdisziplinären Projekten tätig, zuletzt für «Neue Akteurgruppen für die Biodiversität in der Schweiz» zuhanden des Bundesamts für Umwelt (Co-Produktion HSR Rapperswil und Franklin University Lugano). Eigene Kunstperformances hält sie für besonders gelungen, wenn Text, Geräusch, Körper und Witz gleichzeitig zum Zuge kommen.
LinkedIn: https://www.linkedin.com/in/ariane-tanner-7024431a7/
Twitter: https://twitter.com/ArianeTanner1


Basel, 25. November 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar, den aktuellen «Medienmenschen» einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman:
www.matthiaszehnder.ch/abo/

Bild: Martin Guggisberg

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