Anne-Sophie Scholl: «Der Verlust einer publizistischen Haltung ist die grösste Gefahr für die Medien»

Publiziert am 16. Juni 2021 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Anne-Sophie Scholl, Autorin und Dozentin. Sie sagt, die Pandemie habe uns «gezeigt, wo die Grenzen der digitalen Euphorie liegen, auch für Digital Natives». Sie sieht noch Hoffnung für die gedruckte Tageszeitung: «Die Boomer gehen jetzt in Rente. Sie haben Zeit und Geld und vielen Menschen dieser Generation bedeutet die gedruckte Zeitung Heimat.» Sie sieht einen Widerspruch in der Aufgabe des Journalismus, Bildung und Neues zu Vermitteln, und der Marktlogik: «Am meisten Klicks generieren Dinge, die bereits bekannt sind.» Das grösste Problem sieht Scholl in der Entwertung der geistigen Arbeit: «Darüber schreiben die Medien kaum und schaden sich damit selbst.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Milchkaffee, mit Schaum. Dazu ein Nachrichtenpodcast. Beim zweiten Kaffee überfliege ich die Zeitungen.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Ambivalent. Zunehmend finde ich auf Social Media Artikel oder Stimmen, denen ich sonst nicht begegnet wäre.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Die Pandemie hat vor allem gezeigt, wo die Grenzen der digitalen Euphorie liegen, auch für Digital Natives. Die Pandemie hat den Wert von realen Begegnungen vor Augen geführt. Es wird eine Ausdifferenzierung geben. Interessant ist der Schub, den Audio im letzten Jahr erfahren hat.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Früher gab es mehr Geld für redaktionelle Arbeit, mehr Zeit, mehr Wertschätzung – jedenfalls für Männer. Gleichzeitig gab es weniger konkurrierende Angebote.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Das Wort wird es immer geben. Ich finde es immer wieder faszinierend, was für unbeschränkte Welten wir mit lediglich 26 Buchstaben hervorrufen können. Und junge Menschen sind ja sehr sprachsensibel und kreativ.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Mit einem guten Buch kann ich mich immer wieder neu erfinden und in tausend Leben eintauchen. Heute gibt es eine Vielzahl Stimmen, die früher vom Diskurs ausgeschlossen waren und in die Mitte der Gesellschaft drängen. Das sind interessante Perspektiven.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich merke meist auf der ersten Seite, ob mich ein Text anspricht oder nicht. In der Regel gebe ich dem Text dann doch dreissig Seiten. Wenn ich sehr wohlwollend bin, vielleicht fünfzig Seiten.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Das ist das, was Journalismus leisten muss. Journalismus hat ja eine kuratorische Aufgabe, in einem publizistischen Verständnis jedenfalls. Es ist eine kulturelle Aufgabe, Journalismus ist Bildung. Das steht im Widerspruch zur Marktlogik – am meisten Klicks generieren Dinge, die bereits bekannt sind. Wobei sich der Journalismus Erkenntnisse aus der Marktforschung durchaus zu Nutze machen kann. Medien können Themen aufbauen.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Hier sage ich mit Charles Lewinsky: Meine Kristallkugel ist gerade in Reparatur. Aber gut: Das E-Book hat das gedruckte Buch nicht verdrängt, obwohl das prophezeit wurde. Print wird es immer geben, gedruckte Tageszeitungen wohl nicht mehr lange. Allerdings: Die Boomer gehen jetzt in Rente. Sie haben Zeit und Geld und vielen Menschen dieser Generation bedeutet die gedruckte Zeitung Heimat. Andere Branchen – Wellness, Reisen, Gastronomie – setzen auf die pensionierten Boomer und bauen ihre Angebote aus.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Der Verlust einer publizistischen Haltung ist die grösste Gefahr für die Medien. Und das Verharren in unzeitgemässen Strukturen.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Den «SRF Literaturclub» schaue ich mir nach Möglichkeit zur Ausstrahlungszeit an. Die Sendung ist aufgezeichnet. Trotzdem gibt das ein metaphysisches Gefühl wie beim Fussball. Ansonsten nutze ich Sendungen zeitversetzt.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Es gibt auf deutschen Sendern richtig tolle Podcasts, auch sehr gute Gesprächspodcasts. Da stöbere ich mich durch.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Der Dokumentarfilm von Dieter Fahrer «Die vierte Gewalt» von 2018 hat es wie die Faust aufs Auge gedrückt: Die Redaktionsstuben der traditionellen Zeitungen sind keine Leuchttürme einer progressiven Welt. Moderne Leadership-Literatur verhandelt flache Hierarchien, Cluster-Struktur, Diversity Roadmaps und andere partizipative Modelle. Die Medienkonzentration hingegen hat Hierarchien verstärkt, mancherorts halten sich immer noch kleine Sonnenkönige. LinkedIn hat den Genderdoppelpunkt eingeführt, ohne dass dem Berufsportal deshalb ein Zacken aus der Krone gefallen wäre. Als im Frühling zunächst 78, dann 115 Tamedia Journalistinnen in einem offenen Brief eine sexistische Kultur im Unternehmen kritisierten, hat dies nicht zu einer selbstreflexiven Offensive der ganzen Branche geführt. Wie soll ich als junger Mensch glauben, dass in solchen Strukturen für mich interessante Inhalte entstehen?

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Eine publizistische Haltung lässt sich nicht automatisieren. Und Daniel Kehlmanns KI hatte ziemlich Mühe mit Metaphern – in einem Experiment hat der Autor versucht, mit einem Algorithmus eine Kurzgeschichte zu schreiben. Aber Robotik wird ja schon heute genutzt, zum Beispiel im Datenjournalismus. Oder in der ganz normalen Google-Recherche.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Das ist keine Frage der Technik. Es ist eine Frage der Menschen: Was wir mit der Technik machen. Aktuell gibt es eine Bewegung von Reformerinnen in Europa, die das Internet zurück zu den Anfängen und wieder in den Dienst des Gemeinwohls stellen wollen. Es sind Frauen.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Es liegt an uns, ob wir das wollen. Journalismus ist die Voraussetzung für Demokratie – wie Strassen, Spitäler, Schulen. Die Verleger haben ja lange gegen staatliche Förderung lobbyiert, jetzt wollen sie staatliche Förderung: Wie glaubwürdig ist das? Die Unabhängigkeit der Medien ist eine Illusion. Wir sollten mehr über die Art der Abhängigkeiten reden, sie transparent machen. Innerhalb des professionellen Journalismus ist der professionelle Kulturjournalismus besonders unter Beschuss. Du hast ja mal eine Subjektförderung analog zum Ökoausgleich in der Landwirtschaft vorgeschlagen. Leider hat man nicht mehr viel von dieser Idee gehört.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Agenda und Notizen.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Die richtige Frage wäre: Wie die Medien mit dem Phänomen Trump umgegangen sind. Aus demokratiepolitischen Überlegungen ist es problematisch, haben private Unternehmen wie Facebook und Twitter ihm jetzt den Stecker gezogen. Aber: Was für eine Erleichterung – nur schon aus ästhetischen Gründen.

Wem glaubst Du?

Ich glaube an Meinungsbildung im Diskurs.

Dein letztes Wort?

Geld. Es gibt generell eine Entwertung der geistigen Arbeit. Darüber schreiben die Medien kaum und schaden sich damit selbst. Sharon Dodua Otoo hat das kürzlich thematisiert. Sie ist eine der wichtigsten Autorinnen des Frühjahrs, in Deutschland wird sie von Podium zu Podium gereicht und gehört zur kulturellen Elite. Trotzdem muss sie sich mit Sozialämtern herumschlagen. Dass sich kulturelles Kapital schlecht in finanzielles Kapital umwandeln lässt, ist ein verbreitetes Phänomen. Diesen Artikel schreibe ich ohne Entgelt. Würdest Du einen Gärtner bestellen, damit er Deinen Rasen mäht und sagen: Ich poste dann ein Bild auf meinem Blog, das ist wunderbare Werbung für Dich? Danke trotzdem für die Plattform.


Anne-Sophie Scholl
Anne-Sophie Scholl, Autorin für «Zeit Schweiz», «Republik», WOZ oder «NZZ am Sonntag» sowie externe Expertin für SRF Kultur. Daneben Texterin, Jurorin und Dozentin. Sie hat lange in verschiedenen nationalen Zeitungsredaktionen, einem Literatur- und Sachbuchverlag und weiteren kulturell-gesellschaftlichen Institutionen gearbeitet. www.annesophiescholl.ch


Basel, 16. Juni 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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