Anna Lemmenmeier: «Über den Tellerrand zu schauen, ist essenziell»

Publiziert am 19. Juli 2023 von Matthias Zehnder

Das 238. Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Anna Lemmenmeier, Afrikakorrespondentin für Schweizer Radio SRF und SRF News. Sie sagt, wenn sie sich mit jungen Menschen unterhalte, sei sie «immer wieder erstaunt, wie wenig sie über den afrikanischen Kontinent weiss und welche Stereotypen in den Köpfen festkleben.» Sich mit der Welt auseinanderzusetzen, sei aber wichtig «für den Zusammenhalt und das gegenseitige Verständnis in einer Gesellschaft». Als Informationsquellen nutzt sie selbst die afrikanische Wochenzeitung «The Continent» und Twitter. «Mit der Tonalität auf Twitter komme ich allerdings nicht immer klar.» Viel erfahre sie auch «im Gespräch mit Menschen. Das ist das Grossartige an unserem Beruf.»

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

BBC World Service, am Wochenende «The Continent».

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Twitter benutze ich mit Abstand am häufigsten. Für mich ist Twitter eine wichtige Quelle, da es wenig unabhängige Medien gibt in unserem riesigen Berichtsgebiet. Mit der Tonalität auf Twitter komme ich allerdings nicht immer klar. Facebook und Instagram nutze ich eher privat und um meinen Alltag zu bebildern.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Fast alle Interviewpartner:innen haben mittlerweile ein Headset und sind vertraut mit Zoom, Skype, Teams etc. Das erhöht die Audioqualität fürs Radio, wenn man nicht vor Ort sein kann.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst, – war früher alles besser oder schlechter?

Früher hatten wir mehr Zeit für weniger Vektoren. Doch es war auch eine männlichere und starrere Medienlandschaft. Die Medien sind diverser und verspielter geworden. Formate wie Podcasts und Onlinemagazine sind ein grosser Gewinn.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Natürlich.

Was soll man heute unbedingt lesen?

«The Continent». Die beste Wochenzeitung Afrikas, geschrieben ausschliesslich von afrikanischen Journalist:innen.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Sofort weglegen. Es gibt zu viel Lesenswertes, als dass ich meine Zeit mit schlechten Büchern verbringen wollte.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Im Gespräch mit Menschen. Das ist das Grossartige an unserem Beruf.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Ich gehe davon aus, dass ich das Ende der gedruckten Tageszeitung noch erleben werde.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Eine Gefahr. Es ist beeindruckend, welchen Bullsh* Menschen für glaubhaft halten und besorgniserregend, wie das Vertrauen in die Medien schwindet. In Europa ebenso wie in Afrika.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Ich höre, wenn möglich, jeden Morgen lineares Radio und bis vor Kurzem auch jeden Abend. Leider wurde die Abendsendung «Focus on Africa» der BBC nach über 60 Jahren kürzlich abgeschafft, die Podcastversion ist kein Vergleich. Lineares Fernsehen schaue ich vor allem auf Reportagereisen, abends im Hotel.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

«The Comb». «The Horn». «Beziehungskosmos».

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?

Für die Gesellschaft, dass sie sich nach innen wendet und nach innen orientiert. Wenn ich mich mit dieser Altersgruppe über Mediennutzung unterhalte, bin ich immer wieder erstaunt, wie wenig sie über den afrikanischen Kontinent weiss und welche Stereotypen in den Köpfen festkleben. Für den Zusammenhalt und das gegenseitige Verständnis in einer Gesellschaft ist es aber essenziell, über den Tellerrand zu schauen und sich mit der Welt auseinanderzusetzen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Nein, vor allem im Auslandjournalismus nicht. Da spielt die Analyse und das Übersetzen von einem kulturellen Kontext in den andern eine derart wichtige Rolle, das kann ein Roboter in zehn Jahren noch nicht.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Sie führt zu unglaublichen Möglichkeiten. Die wichtigste Errungenschaft der Digitalisierung ist, dass die ganze Welt in Echtzeit Informationen austauschen kann. Das ist eine Goldgrube und gleichzeitig eine Herausforderung für den Journalismus.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?

Ja. Ich berichte aus so vielen Staaten, wo Medien nicht als vierte Macht agieren können. Doch eine vielfältige Medienlandschaft ist fundamental für eine Demokratie. Wir sollten als Gesellschaft bereit sein, für Medien Geld in die Hand zu nehmen.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Alle Notizen auf Reportagereisen, bei Pressekonferenzen, Interviews. Ich habe sogar noch eine Papieragenda.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Donald Trump hat massgeblich dazu beigetragen, dass frauenfeindliche und rassistische Kommentare sowie das aktive Säbeln an der Demokratie salonfähig sind. Die Medien spielen mit und geben ihm und seinesgleichen für Clicks eine Plattform.

Wem glaubst Du?

Ich glaube, dass der Mensch wissentlich oder unwissentlich viele Unwahrheiten verbreitet. Darum a priori niemandem, was nicht bedeutet, dass ich niemandem vertraue.

Dein letztes Wort?

Smash the patriarchy.

Anna Lemmenmeier

Anna Lemmenmeier arbeitet seit 2017 als Afrikakorrespondentin für Schweizer Radio SRF und SRF News. Sie hat an den Universitäten Genf und Bern sowie der University of Ghana Internationale Beziehungen, Geschichte und Völkerrecht studiert. Erste journalistische Erfahrungen sammelte sie beim Westschweizer Radio RSR und bei Radio X in Basel. Danach hat sie acht Jahre lang in verschiedenen Funktionen bei Radio SRF gearbeitet.

Basel, 19. Juli 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Seit Ende 2018 sind über 230 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/

Wenn Sie kein Fragebogeninterview verpassen möchten,  abonnieren Sie einfach meinen Newsletter. Das kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen «Medienmenschen» sowie den aktuellen Wochenkommentar, einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman: www.matthiaszehnder.ch/abo/

5 Kommentare zu "Anna Lemmenmeier: «Über den Tellerrand zu schauen, ist essenziell»"

  1. Im Narrativ der alten Normalität ist es der Mainstream gewohnt, Medien als die (mögliche) „vierten Gewalt“ zu klassifizieren: Wenn, dann wären sie allenfalls die fünfte. Weil die erste Gewalt die (schlimmstenfalls brutal) gross Mächtigen und die (schlimmstenfalls rücksichtslos) schwer Reichen der Welt sind.

    1. ……Da hat mich der U. Keller gerade wieder mal auf etwas aufmerksam gemacht: Es wird von der „4. Gewalt“ gesprochen…. Wie beim Sport: Da wird geschlagen (Züri schlägt Basel….); und ein neuer Eintrittsrekord an Besuchern beim Zolli Basel wird nicht verzeichnet, sondern „geknackt“….
      Sprache ist Handeln, Handeln ist Denken, Denken ist Sprache, Sprache ist Denken…
      Ein Spiegel der Zeit, brutal, unanständig, hart. Der Mainstream. Gottlob gibt es Lesestoff und Gedankenstoff und Handels-Anregungsstoff wie „Manova“ oder auch Video-Kanäle wie jener von Pierre Franckh, welche einem Aufstellen, Denkanregungen (und Dankanregungen) geben und einem noch wunderbare Werte und Botschaften vermitteln….
      Ohne überheblich zu wirken: Einfach einen Schritt weiter wie „SRF-BaZ-NZZ-ZDF-ARD-Zeit-Welt-Tagi“-Clan – …..empfinde ich.

      1. Nein, da wird eben nicht geschlagen. Sie haben schon recht: Sprache ist Denken. Deshalb bitte ich Sie, doch kurz «Staatsgewalt» nachzuschlagen und nachzudenken. Das Wort «Gewalt» meint in der Verfassungslehre die Ausübung hoheitlicher Macht durch die Organe und Institutionen des Staates: Legislative erlässt Gesetze, Exekutive führt sie aus, Judikative richtet. Diese dreifache Gewaltenteilung nennt man gemeinhin Checks and Balances und niemand darf Mitglied mehrerer Gewalten sein. Die Medien werden im übertragenen Sinne als vierte Gewalt bezeichnet, weil sie über die Ausübung der drei Staatsgewalten berichten und so für Transparenz sorgen. Das ist weder brutal, noch unanständig, noch hart.

    2. Die vierte Gewalt bezieht sich schlicht und einfach auf die Gewaltenteilung, wie sie eine Demokratie ausmacht: Die drei staatlichen Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative werden von der vierten Gewalt, den Medien, beobachtet. Das hat nichts mit Macht und Mächtigen zu tun, die drei Gewalten sind seit Aristoteles die drei zentralen Funktionen des Staates (und seit Aristoteles wird der Staat bei der Ausübung seiner «Gewalten» auch beobachtet).

      1. Die drei mitunter als als staatlich bezeichneten „Gewalten“ Legislative, Exekutive und Judikative sind mir sowohl aus der Praxis als auch auch aus der Theorie bestens bekannt. Eher nur aus der Praxis weiss ich, dass sie allesamt nicht viel zu sagen haben, wenn es in Tat und Wahrheit um die Wurst geht.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.