
Anna Jungen: «Die Pressefreiheit ist in der Schweiz gewährleistet. Journalismus nicht.»
Das 326. Fragebogeninterview, heute mit Anna Jungen, Redaktorin und Produzentin bei der Hintergrundsendung «Kontext» auf SRF 2 Kultur. Sie sagt, ihr Arbeitstag sei seit ihrem Einstieg in den Beruf von der «Erosion der vierten Gewalt geprägt». Sie sei «die Medienkrise und die damit einhergehenden Veränderungen gewohnt: Budgetkürzungen, Entlassungen, Reformprogramme». Das rasante Tempo und die möglichen Konsequenzen für den Journalismus seien «krass. Alles verändert sich.» Vieles bleibe aber auch: «Recherchieren, einordnen, nachdenken.» Und die Aufgabe: «Wir müssen das Versprechen des Journalismus einlösen und vermitteln: Die Einordnung in einer chaotischen Welt. Die Möglichkeit, etwas besser zu begreifen. Eintauchen in Lebenswelten. Den Mächtigen auf die Finger schauen.» Es gehe dabei auch um Ideale: «vom Hochhalten der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Es geht um soziale, wirtschaftliche und politische Fragen – um das pure Leben. Und das interessiert – wenn gut vermittelt – auch jüngere Menschen.» Das Problem: «Qualitätsjournalismus und digitale Medienlogik vertragen sich nicht immer», sagt sie. «Im Zweifel gegen die Medienlogik und für den Journalismus, bitte.» Das gilt auch für Politik und Gesellschaft: Die Pressefreiheit sei in der Schweiz gewährleistet. «Journalismus aber nicht.»
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Bin wenn immer möglich Spätaufsteherin und -zubettgeherin. Aber nach dem Aufwachen höre ich Radio SRF4 News, werfe einen Blick in den «Blick», die «BaZ», und auf X – wo ich JournalistInnen, WissenschaftlerInnen, PolitikerInnen und Organisationen jeglicher Couleur, aus näheren und ferneren Weltgegenden folge. Leider verlassen immer mehr X – aus nachvollziehbaren Gründen.
Wie hältst Du es mit Facebook und Instagram, X, Bluesky, Threads und Mastodon, LinkedIn, YouTube und TikTok?
X immer noch täglich, LinkedIn seit kurzem häufiger, YouTube für Formate wie STRG V, DOK, Spiegel TV und lustige Videos. Insta bewusst nicht, weil es mir da zu gut gefallen würde.
Wie hat sich Dein medialer Alltag seit Deinem Berufseinstieg verändert?
Ich kenne nur den Medienwandel. Mein Alltag ist seit meinem Einstieg von der Erosion der vierten Gewalt geprägt. Ich bin die Medienkrise und die damit einhergehenden Veränderungen gewohnt: Budgetkürzungen, Entlassungen, Reformprogramme – aber das rasante Tempo und die möglichen Konsequenzen für den Journalismus sind krass. Alles verändert sich. Vieles bleibt aber auch: Recherchieren, einordnen, nachdenken. Und nach wie vor das grosse Privileg, Menschen zu begegnen, Fragen zu stellen und Antworten hinterfragen zu dürfen.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
Wann war früher? Ich bin eigentlich zu jung für diese Frage. Die Medienmarken hatten früher mehr Autorität und Geld – das war sicher angenehmer für die JournalistInnen. Ob die Qualität besser war, kann ich nicht beurteilen. Es gab wohl immer guten und miserablen Journalismus. Die Perspektiven sind heute vielfältiger, genauso die Recherchemöglichkeiten. Ich bewundere investigative OSINT-JournalistInnen.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Meine Nichte (8) lernt noch von Hand schreiben und sie ist die Zukunft.
Was soll man heute unbedingt lesen?
«How to Lose a Country – The seven steps from Democracy to Dictatorship» von Ece Temelkuran. «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft – Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus» von Hannah Arendt.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Leider kann ich auch mal gute Bücher weglegen. Schlechte erst recht.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
Im Alltag. Gerade eben im Treppenhaus von einer Nachbarin was zum Thema Sonnenblumen und Volieren gelernt. Genauso wie bei Tech-Reporterin Adrienne Fichter oder Kunst-Redaktorin Ellinor Landmann. Die Tech-Welt und Bildende Kunst sind wirklich nicht meins. Aber so, wie die beiden mir Themen vermitteln, eben schon.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Auch Faxgeräte haben länger überlebt als viele dachten. Oder frei nach dem Protagonisten Tschick im gleichnamigen Roman von Wolfgang Herrndorf: «Man kann zwar nicht ewig die Luft anhalten. Aber doch ziemlich lange.»
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Eine Gefahr. Fakenews zu entlarven bindet viele der immer knapper werdenden Ressourcen. Desinformation wirken wie ein Gift, sät Misstrauen. Für den Qualitätsjournalismus sind Fakenews aber auch eine Chance um zu zeigen, was eigentlich Journalismus kann. Sofern dafür genug Zeit und Ressourcen da sind.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Ich höre häufig SRF4 News und denke mir, wie grossartig ist eigentlich lineares Radio? Einfach einschalten und es kommt eine 25minütige Reportage aus Bangladesch über die Entzauberung der Interimsregierung unter Nobelpreisträger Muhammed Yunus, dann ein Beitrag zu Rohstoffen in der Ukraine, dazwischen eine Analyse zu immer höheren Manager-Löhnen und ein Gespräch zu Neu-Bundesrat Martin Pfister und dem Kollegialitäts-Prinzip. Gibt es ein besseres Fenster zur Welt?
Das «Echo der Zeit» und «Rendez-vous» sind für mich ein Fixstern, wenn auch häufig zeitversetzt. Genauso wie am TV «Bauer, ledig, sucht…»
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
International, Tagesgespräch, Hidden Brain, Infrarouge, RadioLab etc.
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehören?
Ich freu mich, dass 44 Prozent offenbar nicht dazugehören, und frage mich, wie die Studie in den 70er Jahren ausgefallen wäre?
Klar ist: Wir müssen das Versprechen des Journalismus einlösen und vermitteln: Die Einordnung in einer chaotischen Welt. Die Möglichkeit, etwas besser zu begreifen. Eintauchen in Lebenswelten. Den Mächtigen auf die Finger schauen. Gerade junge Leute sind häufig idealistisch – und Journalismus lebt auch von Idealen: Vom Hochhalten der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Es geht um soziale, wirtschaftliche und politische Fragen – um das pure Leben. Und das interessiert – wenn gut vermittelt – auch jüngere Menschen.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Gewisse Dinge sicher, warum nicht? Aber was versteht Pietro Supino unter Journalismus? Ich verstehe darunter Recherche, Reportage, Hintergründe, Einordnung eintauchen in Lebenswelten. Das müssen Menschen mit Menschen für Menschen leisten. Ich lese den «Tagi» gerne. Hoffentlich auch noch in zehn Jahren.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Was für eine dramatische Entweder-Oder-Frage! Die Digitalisierung ist ein Fakt, insofern: weder noch. Aber Qualitäts-Journalismus und digitale Medienlogik («Fühl die Reichweite! Die Klicks!») vertragen sich nicht immer. Im Zweifel gegen die Medienlogik und für den Journalismus, bitte.

Brauchen wir in der Schweiz eine Medienförderung?
Die Frage überlasse ich den Politiker und Politikerinnen in den Parlamenten und der Stimmbevölkerung. In der Hoffnung, dass allen klar ist, dass top Werte punkto Medienfreiheit nichts bringen, wenn es immer weniger Journalismus gibt. Gerne verweise ich in diesem Zusammenhang auf einen Ausschnitt eines Artikels von Rafaela Roth in der NZZ am Sonntag. «Ein Viertel der Politiker versteht, dass unser Mediensystem auf einen Kipppunkt zusteuert, ein weiterer Viertel sieht nicht, wie akut das Problem ist, ein Viertel interessiert sich nicht, und der letzte Viertel findet es gut, wenn die Medien schwächer werden.»
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Ja. Notizen auf meinen Handrücken, Entschuldigungen, Türkisch-Hausaufgaben und sonstige persönlichen Botschaften.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Gut: Seine erneute Wiederwahl war vielleicht ein heilsamer Schock für einen grossen Teil der Medien-Bubble. Ein Realitätscheck.
Schlecht: Trump diskreditiert Journalismus und Medienschaffende indem er zum Beispiel AP-ReporterInnen die Akkreditierung fürs Weisse Haus entzogen hat oder hunderte Mitarbeitende von US-Auslandssendern beurlauben lässt. Und egal, um welche Person es geht: Es ist für den Journalismus immer eine grosse Herausforderung, wenn jemand Fakten umdeutet oder grad ganz über Board wirft, mit dem Zweck, die Wirklichkeit umzudeuten. Die Frage ist: Wie können JournalistInnen diesen Phänomenen gerecht werden und die eigene Glaubwürdigkeit verteidigen?
Wem glaubst Du?
Leuten, die ihre Meinung ändern, wenn neue Fakten dazukommen. Leuten, die ihre Überzeugungen und Haltung bewahren, auch wenn es Gegenwind gibt.
Leuten, die zweifeln.
Dein letztes Wort?
Die Pressefreiheit ist in der Schweiz gewährleistet. Journalismus aber nicht.
Journalismus ist Handarbeit.
Anna Jungen
Anna Jungen ist Redaktorin und Produzentin bei der Hintergrundsendung «Kontext» auf SRF 2 Kultur sowie in einem kleinen Pensum beim Regionaljournal Basel Baselland. Sie hat Philosophie und Germanistik studiert und mit einem Master abgeschlossen. Die Faszination Radio entdeckte Anna Jungen 2008, als jemand sie in der Kleinstadt Bangangté, im Westen Kameruns, spontan in eine Live-Sendung des lokalen Radios einlud. «Es war kurz vor Weihnachten und ich sollte erzählen, wie wir in der Schweiz die Feiertage verbringen. Danach wusste ich zwei Dinge: Radio ist das beste Medium der Welt und Nervosität spürt man bis auf die Zähne», sagt sie. Zurück in der Schweiz absolvierte sie verschiedene Praktika bei Kanal K und Radio X, später dann auch im Regionaljournal Basel Baselland von Radio SRF.
Basel, 26.03.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Bild: zvg
Seit Ende 2018 sind über 300 Fragebogeninterviews erschienen – eine alphabetische Liste mit allen Namen und Interviews gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/menschenmedien-die-uebersicht/
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