Andrea Christen: «Journalismus muss mehr erklären»

Publiziert am 11. Februar 2021 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Andrea Christen, Auslandredaktor bei Radio SRF. Er sagt, es sei «beeindruckend», was sich alles aus dem Homeoffice machen lasse: «Wir machen im Homeoffice Dinge, die wir uns vor einem Jahr nicht erträumt hätten.» Technisch sei es aber auch anspruchsvoll: «Erstmals in meiner beruflichen Karriere stelle ich fest, dass ich nicht mehr mühelos allen technischen Neuerungen folgen kann.» Zudem fehle ihm «der persönliche Austausch, das vertiefte Gespräch mit erfahrenen Kolleg*innen». Um die Zukunft des Radios macht er sich keine Sorgen: Dass Podcasts Hochkonjunktur haben, zeige, «dass der Audiojournalismus, neu gedacht, immer eine Zukunft haben wird.» Wichtig sei, dass Journalismus wegkomme vom reinen «we bring you the news» und sich mehr auf «we help you to make sense» konzentriere.

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Mein Setting: Eine lärmig-chaotische (kleine!) Familienküche. Long reads ausgschlossen! Die Apps von «The Guardian», «BBC», «SRF», «New York Times» und «CNN» lese ich quer, ebenso meine Twitter-Timeline. Dazu läuft SRF 4 News.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Facebook und Instagram sind als Infoquellen für mich weitgehend bedeutungslos. In meiner Facebook-Timeline hatte ich nur Belangloses. Spätestens seit der «NoBillag-Initiative» empfinde ich es als toxischen Ort. Ich bin nicht mehr dabei. Twitter ist auch toxisch, als Quelle, gerade im Auslandjournalismus, ist die Plattform aber wichtig, eigentlich unabdingbar – und nicht erst seit Donald Trump.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Der Digitalisierungsschub war beeindruckend – und beeindruckend rasant. Wir machen im Homeoffice Dinge, die wir uns vor einem Jahr nicht erträumt hätten: Interviews, Beiträge, Podcasts, die Entwicklung neuer Formate, teilweise sogar die Produktion von Livesendungen. Erstmals in meiner beruflichen Karriere stelle ich fest, dass ich nicht mehr mühelos allen technischen Neuerungen folgen kann. Man muss auf zack sein. Gewisse Dinge kann das Homeoffice nicht bieten: Ich bin ziemlich neu in der Fachredaktion Ausland. Der persönliche Austausch, das vertiefte Gespräch mit erfahrenen Kolleg*innen, fehlen mir.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Simpler vielleicht. Als ich anfing – so lange ist das noch nicht her – hat man Radio gemacht. Nicht mehr, nicht weniger. Die vielen neuen Vektoren und Kanäle, die ständigen Reorganisationen, der Spardruck, die Unsicherheit, wohin uns die Digitalisierung führt, nicht zu wissen, ob morgen noch gilt, was heute gilt: Das hat den Beruf und auch die Anforderungen an uns vielfältiger, aber auch viel komplexer gemacht. Offensichtlich sind die Chancen. Dass etwa Podcasts eine derartige Hochkonjunktur erleben, zeigt, dass der Audiojournalismus, neu gedacht, immer eine Zukunft haben wird. Unsere Ohren bleiben nun mal das zweitwichtigste Sinnesorgan.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Ganz sicher. Eine tiefgehende Analyse – das kann Text am besten. Wenn ich einen Text lese, vor allem Belletristik, so kann ich mir im Kopf zudem meine eigenen Bilder machen. Das so vergötterte Bewegtbild gibt alles vor.

Was soll man heute unbedingt lesen?

Geschichte – und zwar auch die Primärquellen. Ich stelle fest, wie ich mich vielen Themen instinktiv von dieser Seite nähere, wie ich sie erst im historischen Kontext anfange zu verstehen.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Früher empfand ich es als persönliche Niederlage, ein Buch nicht zu Ende zu lesen. Seit ich Vater bin, ist das Zeitbudget für den Medienkonsum viel kleiner. Schlechte Bücher überdauern keine 100 Seiten.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

In kanadischen Medien! Ich lese sie, seit Kanada zu meinem Dossier gehört. «Macleans`s» etwa, das traditionsreichste Recherche- und Nachrichtenmagazin. Sehr gut finde ich auch das öffentlich-rechtliche Medienhaus «CBC». Nicht nur eröffnen diese Medien eine spezielle Sicht auf die Welt, gerade auf die USA. Sie korrigieren auch das Kanada-Bild einer toleranten, multikulturellen und liberalen Vorzeigedemokratie. Wie die Kanadier etwa mit den Indigenen umgingen (und umgehen), ist schockierend. Wer es genauer wissen will, liest «Unter dem Nordlicht» des Luzerner Historikers Manuel Menrath. Er hat die «First Nations» in ihren Reservaten in Ontario besucht.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Ich habe bei Roger Blum studiert, als er an der Universität Bern noch Professor für Medienwissenschaft war. In seiner Vorlesung «Geschichte der öffentlichen Kommunikation» hat er dargelegt, wie kein Medium je ganz verschwand– auch wenn manche nur noch ein Nischendasein fristen. Ich könnte mir vorstellen, dass es auch mit der Papierzeitung so sein wird. Übrigens glaube ich, dass auch das lineare Radio nie verschwindet.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Eine Aufgabe. Ich finde, Journalismus muss mehr erklären, einordnen, Fakten checken. Die Leute haben übers Internet längst Zugriff auf zig Quellen (und «Fake News»). Wir müssen deshalb auch darlegen, warum unser Angebot von besonderer Qualität ist. Und zwar mit Transparenz: Wir sollten unsere Quellen offenlegen, aufzeigen, wie wir recherchieren, was wir warum weglassen, generell erklären, warum wir tun, was wir tun. Also weniger «we bring you the news» und mehr «we help you to make sense». Journalismus als zuverlässiger Polarstern im dunklen Info- und Fake News-Dschungel. Dazu gehört übrigens auch der Datenjournalismus. Ich finde, er leistet in der Pandemie Grossartiges.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Radio ist Pflicht. Offen ist, wie viel Radio ich hören würde, wenn ich nicht Radiomensch wäre. Fernsehen schau ich nämlich nie. Konkret: Meistens SRF 4 News und damit auch alle SRF-Primetimesendungen wie das «Echo der Zeit». Ich folge auch dem guten Rat eines Redaktionskollegen, während der Frühdienste «BBC World Service» zu hören. Ein Tipp übrigens, den viele nicht kennen: Auf der «Play SRF App» kann man im Radio-Livestream über Stunden «zurückspulen». Quasi-lineares Hören!

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Viele. «The Daily» der «New York Times» höre ich meistens. Was die BBC zu Geschichte anbietet, finde ich toll. «In Our Time» zum Beispiel: Klassischer Nerd-Talk, in dem die besten Expert*innen auch mal eine Stunde über die Schlacht von Lepanto oder über Höhlenmalereien reden.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Das ist deprimierend. Aber es darf uns nicht als Ausrede dienen, um diese Altersgruppe verloren zu geben. Ich führe Schulklassen durch unsere Studios und stelle fest, dass die Jungen sehr wohl daran interessiert sind, zu verstehen, was in ihrer Umwelt passiert. Sie verstehen auch den Wert von unabhängigem Qualitätsjournalismus. Sie fühlen sich von traditionellen Medieninhalten aber nicht angesprochen. Das ist die Aufgabe, vor der wir uns nicht drücken dürfen: Ein junges Publikum dort abholen, wo es sich bewegt – mit einer Sprache, die es versteht.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Teils wohl schon, ja. Längst ist auch die Rede davon, wie Roboter Nachrichtenmeldungen im Radio nicht nur schreiben, sondern auch sprechen könnten. Aber die Leute wollen, gerade in unserem Netflix-Zeitalter, ein ausgefeiltes Storytelling, sie wollen Emotionen, cliffhanger, plot twists, hosts, personality – Podcasts oder Texte auch fürs Gemüt. Kein Roboter kann das.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Manchmal sehe ich den Inhalt bedroht. Die vielen digitalen Kanäle und Plattformen, die sich im audiovisuellen Journalismus ständig aufs Neue auftun, sind eine grosse Chance. Das bedingt ständige Reorganisation und eine rollende (Weiter-)Entwicklung von Formaten und Erzählformen. Die publizistische, inhaltliche Diskussion droht zu kurz zu kommen. Der alte Grundsatz «Inhalt vor Form» ist in Gefahr.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ja. Die Frage ist, welche Gestalt er haben wird. Ich hoffe, dass es den Journalismus noch geben wird, wie er etwa in den SRF-Fachredaktionen gepflegt wird: Fixe Dossiers, mit Verantwortlichen, die ihre Gebiete wirklich verstehen – gewichten und einschätzen können. Die Tiefenschärfe, die meine Ausland-Kolleg*innen zu ihren Berichtsgebieten haben, ist beeindruckend. Und natürlich: Korrespondent*innen, mit «boots on the ground». Der derzeitige Homeoffice-Schub könnte vorgaukeln, es sei nicht mehr nötig, vor Ort zu sein.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja. Notizen bei Sitzungen etwa. Ich bin auch ein hoffnungsloser Fall eines «Doodlers» – ich zeichne nonstop Dinge auf Blätter.

Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Unter dem Strich: gut. Der Slogan der «Washington Post» («democracy dies in darkness») war angesichts der Flut von «Fake News» aus dem Weissen Haus plötzlich mehr als nur Pathos. Mit dieser Präsidentschaft wurde klar, wie wichtig gründlicher Recherchejournalismus ist, wie ihn etwa die «New York Times» betreibt. Immer wieder eine schlechte Falle machten die US-Networks – und ehrlich gesagt auch europäische Medien: Man war gefangen in zahllosen Newszyklen, die Trump immer und immer wieder bestimmte. Er trieb die Medien vor sich her. Die wichtigen Geschichten gingen im Dauerrauschen unter. Sehr spät erst entschieden einige Networks, Trumps von Unwahrheiten gespickten Medienbriefings nicht mehr live zu übertragen. Er brachte Quoten und Klicks. Wer wollte schon darauf verzichten?

Wem glaubst Du?

Meinem Bauchgefühl. Leider weiss ich es nicht immer zu deuten.

Dein letztes Wort?

Be brief. Be relevant.


Andrea Christen
Andrea Christen (38) ist seit kurzem Auslandredaktor bei Radio SRF, wo er die Dossiers USA, Grossbritannien und Kanada betreut. Daneben leitet er den History-Podcast «Zeitblende» von SRF. Zuvor war er Redaktor und Produzent, später stellvertretender Redaktionsleiter von SRF 4 News (und zuständig für alles Digitale). Sein Weg zur Infoabteilung von Radio SRF führte über verschiedene Lokalradios und SRF 3. Der Davoser hat in Bern Geschichte und Medienwissenschaften studiert und 2008 mit dem Lizentiat abgeschlossen.
https://www.srf.ch/audio/zeitblende


Basel, 11. Februar 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Bild: Claudia Herzog | claudiaherzog.ch

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