Andrea Bleicher: «Journalismus, der sich automatisieren lässt, ist kein Journalismus»

Publiziert am 27. Mai 2020 von Matthias Zehnder

Andrea Bleicher war die erste Chefredaktorin des «Blick». Heute sagt sie, sie höre lieber Punkrock als Podcasts, schaue im Fernsehen live höchstens Biathlon und Langlauf und habe in der Coronakrise zum erstenmal den Zweck eines Newstickers eingesehen. Sie sagt: «Vielleicht führt die Digitalisierung zum Tod der traditionellen Medienhäuser – aber nicht zum Tod der Medien» und bedauert, dass es die Medien «bisher nicht geschafft haben, aus der Trump-Falle herauszukommen».

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Ich lasse mir von Google News eklektisch Artikel vorschlagen.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Instagram macht mir Spass, Facebook benutze ich, um zu schauen, was Freundinnen und Freunde so teilen, Twitter meide ich.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Ich habe meinen Medienkonsum vervielfacht, jeden Tag nebst dem Tagesanzeiger und NZZ auch den Guardian und Spiegel Online gründlich gelesen. Ausserdem habe ich zum erstenmal den Zweck eines Newstickers eingesehen. Und viele schlechte Filme geschaut.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Wir hatten es auf den Redaktionen lustiger, es gab mehr schräge Typen, mehr Budget – und es wurde eindeutig mehr getrunken. Wenn man vom Rock’n’Roll absieht, glaube ich nicht, dass die Medien schlechter geworden sind. Ich vermute vielmehr, dass wir uns den Journalismus durch jahrelanges Jammern und Nörgeln selber schlecht geredet haben.

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Unbedingt. Fast nichts ist so schön, wie ein schön geschriebener Satz.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

«In Cold Blood» von Truman Capote.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich lese jedes Buch bis zum bitteren Ende.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Überall: beim Spaziergang durch die Stadt, im Gespräch mit Freundinnen, in den Beilagen der Sonntagszeitungen, in den Sachbuchabteilungen von Buchhandlungen, in Kundenmagazinen, in Social-Media-Feeds.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Noch zwei Jahrzehnte.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Sie helfen dabei, den verbreiteten Irrtum zu korrigieren, dass jeder der etwas schreibt, auch Journalist oder Journalistin ist.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Im Winter schaue ich Biathlon und Langlauf live. Sonst nichts.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Nein. Ich höre lieber Punkrock.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Für die Medien bedeutet es, dass sie die digitalen Vertriebskanäle nicht verstehen und darum ihre Produkte bei ganzen Generationen nicht mehr ankommen. Für eine Branche, in der Kreativität und Neugierde so wichtig sind, ist das verheerend. Warum man bei vielen traditionellen Medienhäusern und auch bei vielen Medienstartups denkt, man müsse sich nicht um Kanäle wie Instagram kümmern, ist mir ein Rätsel.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Journalismus, der sich automatisieren lässt, ist kein Journalismus.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Die Digitalisierung lässt viele neue Formen des Geschichtenentwickelns, des Geschichtenerzählens und der Verbreitung zu. Dass die Monetarisierung oft nicht gelingt, ist ein Problem des Medienmanagements. Es stimmt nicht, dass die Menschen keinen Journalismus mehr wollen. Aber sie wollen ihn anders konsumieren. Vielleicht führt die Digitalisierung zum Tod der traditionellen Medienhäuser – aber nicht zum Tod der Medien.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ich wünsche mir, dass er eine Zukunft hat.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Ja, Notizen, die ich später nicht mehr lesen kann. Und Geburtstagskarten.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Donald Trump verachtet die Medien und versteht gleichzeitig, sie perfekt für sich zu nutzen. Schlecht für die Medien ist, dass sie es bisher nicht geschafft haben, aus dieser Trump-Falle herauszukommen.

Wem glaubst Du?

Dem Urteil meiner engsten Vertrauten.

Dein letztes Wort?

Frauen, werdet Chefredaktorin oder CEO. Es braucht Euch.


Andrea Bleicher
Andrea Bleicher (1974) ist im Kanton Luzern aufgewachsen. Sie war Buchhändlerin und hat die Ringier-Journalistenschule absolviert. In ihrer journalistischen Laufbahn war sie Reporterin, Nachrichtenchefin, Stv Chefredaktorin und Chefredaktorin beim «Blick», Redaktorin und Blattmacherin bei «20 Minuten», Inlandredaktorin und Redaktionsleiterin der «SonntagsZeitung». Seit zwei Jahren besitzt und führt sie mit der Journalistin Sabina Sturzenegger die Kommunikationsagentur Panda & Pinguin in Zürich.
https://pandaundpinguin.ch/


Basel, 27. Mai 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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