Aline Wanner: «Vieles ist heute besser: Sprache, Recherche, Ambition»
Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute mit Aline Wanner, Redaktionsleiterin «NZZ Folio». Sie sagt, Journalismus brauche «Leute, die frei und gross denken, die gute Geschichten machen und sich überlegen, auf welchen Kanal sie passen.» Dass viele junge Menschen zu den News-Deprivierten gehören, bedeutet für Wanner, «dass wir uns bewegen und innovativ sein müssen.» Sie habe «keine Ahnung», wie lange es noch gedruckte Tageszeitungen gebe. «Aber wir sollten uns nicht mit Sentimentalitäten aufhalten und lieber über gute Geschäftsmodelle nachdenken.»
Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?
Ich kann gut ohne Medien frühstücken. Aber in der Regel: Vor dem Kaffee die «Neue Zürcher Zeitung», dazu «Heute Morgen», danach «Tages-Anzeiger», dazwischen immer Twitter und in jüngerer Vergangenheit natürlich Clubhouse.
Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?
Auf Facebook bin ich kaum mehr, auf Twitter immer noch viel zu viel, Instagram befriedigt meine Lust am Voyeurismus.
Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?
Ich habe mehr Zeit für die «ZEIT», für den «Spiegel», für die «Süddeutsche Zeitung», das «Magazin», manchmal sogar für den «New Yorker» – also für gute Lektüre.
Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?
Vieles ist heute besser: Sprache, Recherche, Ambition. Aber wir haben immer noch viel Luft nach oben.
Haben geschriebene Worte noch Zukunft?
Immer.
Was soll man heute unbedingt lesen?
Ich lese gerade Joan Didion, fantastisch! Das ist einer von vielen grossen Vorteilen an meinem Beruf: Man kann immer wieder neue Vorbilder entdecken, sich darin verlieren und sich von ihnen inspirieren lassen.
Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?
Ich kann und lege sie sie rasch weg. Ich bin eine ungeduldige Leserin, total Social-Media-geschädigt.
Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?
Jedes Mal, wenn ich eine neue Geschichte recherchiere oder wenn ich auf Reportage bin. Natürlich auch im Museum, im Kino, wenn ich die Zeitung lese, im Gespräch mit meinen Kollegen und Freunden. Ich glaube, ich bin, was man sein sollte als Journalistin: neugierig.
Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?
Keine Ahnung. Aber wir sollten uns nicht mit Sentimentalitäten aufhalten und lieber über gute Geschäftsmodelle nachdenken.
Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?
Leider eher eine Gefahr, denke ich, bin aber auch nicht so sicher, wie neu das Phänomen tatsächlich ist.
Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?
Da bin ich schon lange out – spätestens, seit man bei der SRF-App einfach bei irgendeiner Zeit einsetzen kann.
Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?
Ja, Podcasts höre ich gerne: Den «Longform Podcast», um am Puls der amerikanischen Meister zu bleiben, «Hotel Matze», «Break-Up», «Zeit Verbrechen» für Zerstreuung und gute Unterhaltung, «Fresh Air» und «Radio Lab» auf Anraten meines Kollegen Reto Schneider: inspirierend, lustig, irre gut gemacht. Und natürlich «The documentary», «Musik für einen Gast», «Passage», «Untenrum», ich habe selbst in der Pandemie zu wenig Zeit.
Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 55 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?
Dass wir uns bewegen und innovativ sein müssen.
Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?
Der Journalismus, den ich mag und zu machen versuche, lässt sich nicht automatisieren.
Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?
Der Journalismus braucht keine Befreiung. Er braucht einfach Leute, die frei und gross denken, die gute Geschichten machen und sich überlegen, auf welchen Kanal sie passen. Die Digitalisierung ist ein natürlicher Teil dieses Prozesses – sie macht die Medien nicht tot, sondern lebendiger als je zuvor.
Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?
Sicher, sonst müsste ich sofort künden.
Schreibst Du manchmal noch von Hand?
Ja, oft: Notizen auf Reportagen oder an Sitzungen, Geburtstagskarten, Briefe, Post-its. Ich bin da oldschool.
Ist (oder war) Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?
Er war und ist eine Herausforderung und Herausforderungen tun meistens gut.
Wem glaubst Du?
Der iPhone-Wetter-App.
Dein letztes Wort?
Ist ein erster Satz von Joan Didion: «Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.»
Aline Wanner
Aline Wanner leitet «NZZ Folio», das Magazin der «Neuen Zürcher Zeitung», für die sie auch als Reporterin arbeitet. Zuvor war sie Redaktorin im Schweizer Büro der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit», bei der «Schweiz am Sonntag» in Basel und beim «Baslerstab», als es ihn noch gab. Wanner ist Juristin und hat die Diplomausbildung Journalismus am MAZ in Luzern absolviert.
https://folio.nzz.ch/
Basel, 3. März 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar, den aktuellen «Medienmenschen» einen Sachbuchtipp und einen Video-Buchtipp auf einen Roman:
www.matthiaszehnder.ch/abo/
Ein Kommentar zu "Aline Wanner: «Vieles ist heute besser: Sprache, Recherche, Ambition»"
„Der Journalismus braucht keine Befreiung“: vielleicht? Aber wahrscheinlich die Medien schon? Insbesondere auch die NZZ, drehen sie sich mehrheitlich unisono mit der Politik, der Wirtschaft und der Wissenschaft mit einem immer noch grösseren Aufwand immer noch schneller wie auf einem Karussell im Stillstand im Kreis.