Adrienne Fichter: «Desinformation ist Gift für die Demokratie»

Publiziert am 27. März 2019 von Matthias Zehnder

Das Fragebogeninterview mit der Zürcher Politologin und «Republik»-Redaktorin Adrienne Fichter über ihren persönlichen Mediengebrauch, ihren Umgang mit sozialen und anderen Medien sowie Zustand und Zukunft des Journalismus in der Schweiz. Fichter sagt, Fake News seien eine Gefahr für das ganze Mediensystem, «weil ihre Anbieter damit Zweifel und Misstrauen säen wollen bei allen MedienkonsumentInnen.» Wirtschaftlich sieht sie vor allem im Nischen- und Fachjournalismus noch eine Zukunft. Fichter beobachtet zudem, dass das Links-Rechts-Schema bei Internet-Themen immer weniger greift.

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Ich frühstücke erst im Büro, also bereits mitten während der Arbeit. Meine einschlägigen Fachnewsletter wie C36daily, Civic Hall, The Digest und The Interface von Casey Newton dürfen dabei nicht fehlen. Diese sind mir heilig und ich zahle auch teilweise für sie.

Im Zweifel lieber Text ohne Bild oder Bild ohne Text?

Text ohne Bild.

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Facebook ist mein Untersuchungsgegenstand und Twitter meine personalisierte Zeitung. Mit Instagram kann ich zugegeben wenig anfangen, sollte ich aber. Ich bin da stille Beobachterin.

Es passiert etwas ganz Schlimmes wie 9/11. Wie informierst Du Dich?

Über die Live-Berichterstattung der NZZ und deutscher Leitmedien wie SPON und «Zeit», sowie Tweets von verifizierten JournalistInnen auf Twitter.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Soweit ich das beurteilen kann (ich bin noch nicht lange im Journalismus dabei und gewissermassen Quereinsteigerin) gibt es zwei Entwicklungen: bei der tempogetriebenen digitalen Live-Berichterstattung schleichen sich mehr Fehler ein als früher (damals hatten Redaktionen auch mehr Zeit für die Faktenprüfung und publizierten vielleicht verzögert Extraausgaben). Bei allen anderen Publikationsgattungen (Hintergrund/Analyse, Reportage etc.) machen die Medien meiner Meinung nach einen viel besseren Job als früher (in Sachen Textqualität, Ausgewogenheit etc.).

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Natürlich. Warum sollten sie keine haben?

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Ich mag zwar keine verordneten Lesebefehle. Aber nun gut, wer sich für Automatisierung und Algorithmisierung der Gesellschaft und des Staats interessiert, dem empfehle ich die Paper von AlgorithmWatch, irights-Lab und der Bertelsmann-Stiftung zu lesen. Denn: es ist eine grosse Herausforderung bei diesen abstrakten Themen, die Probleme (Datenmissbrauch, fehlende Bürgerrechte, fehlende Kontrollmechanismen etc.) anschaulich zu erklären. Bei Kartellabsprachen in der Baubranche ist der Skandal für alle evident. Bei digitalen Themen muss das Skandalpotenzial zuerst einmal erklärt werden, damit Empörung darüber aufkommt.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Ich fühle mich zwar schlecht dabei, aber ich habe zuhause einen Friedhof von angelesenen Büchern. Doch: Das Leben ist zu kurz für schlecht geschriebene Bücher und Texte. Ich gebe da relativ schnell auf bei Romanen, deren Geschichten mich nicht packen (bei Sachbüchern hingegen nicht, da quäle ich mich durch).

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Seit ich bei der «Republik» arbeite, verbringe ich viel Zeit mit der Lektüre von Reports (EU-Kommission, Bundesverwaltung Privacy-Organisationen etc.) Dort entdecke ich Details, Fussnoten zum Beispiel, die mich auf eine neue «Spur» bringen. Dann entwickle ich eine Storyidee, die sonst «an mir vorbeigegangen» wäre. Was ich sonst tue: immer wieder rausgehen und mit Leuten reden, in meinem Fall ist es das netzpolitische Netzwerk. Da erwähnen Kontakte von mir ganz beiläufig etwas, das sie selber gar nicht als wichtig erachten, aber für mich der Anfangspunkt einer Republik-Geschichte sein kann.

Spielt es eine Rolle, ob Zeitungen gedruckt oder digital erscheinen?

Als Republik-Journalistin müsste ich jetzt mit Nein antworten 🙂

Im Ernst: Langfristig wohl nicht, weil die LeserInnen einen Artikel dann lesen, wenn sie sich dafür Zeit nehmen. Egal ob print oder digital.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Eine Gefahr, wobei ich den Begriff nicht mehr verwenden will (da von Donald Trump usurpiert und missbraucht). Desinformation – also vorsätzlich produzierte Fake News – ist für das ganze Mediensystem eine Gefahr, weil ihre Anbieter damit Zweifel und Misstrauen säen wollen bei allen MedienkonsumentInnen. Es spielt keine Rolle, ob man am Schluss der Verschwörungstheorie Glauben schenkt oder nicht. Die Falschnachricht sorgte dafür, dass ich letzten Ende gar nichts mehr glauben will, auch nicht den geprüften Informationen von Qualitätsmedien. Auch wenn Letztere vielleicht noch fehlerfreier arbeiten als früher. Desinformation ist Gift für die Demokratie.

Es ist immer noch kommerziell (und nicht nur politisch) zu attraktiv, Desinformation zu produzieren. Die Plattformbetreiber haben mit ihren Werbenetzwerken einen grossen Anteil daran und hinken mit ihren Massnahmen immer drei Schritte hinterher. Wir werden diese Problematik kurzfristig nicht im Griff haben.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Live-Events versuche ich, wenn möglich mitzuverfolgen, alleine schon wegen des Unterhaltungsfaktors auf Twitter, wo die Debatte dazu stattfindet.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Recode/Decode von Kara Swisher, dann einige deutschsprachigen Podcasts wie «Das Thema» der «Süddeutschen Zeitung», «Hintergrund» von Deutschlandfunk, SRF 2 Kontext und die Medienwoche sowie «Hinter der Geschichte» der «Zeit».

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 53 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Es ist gefährlich, weil die politische Meinungsbildung in einer Demokratie von aufgeklärten StimmbürgerInnen abhängt. Die Medien stellen diese demokratierelevanten Inhalte mehr. Wenn die jüngere Generation diese nicht mehr konsumiert und auch keine Zahlungsbereitschaft mehr dafür da ist, ist es einfacher, online in Parallelwelten abzudriften. Dies ist umso dringlicher bei der anhaltenden Messengerisierung der digitalen Kommunikation, also der Verlagerung der Kommunikation in geschlossene Kanäle (Facebook Gruppen, Whatsapp etc) vor allem bei jungen Internet-NutzerInnen. Hier entwickeln Gerüchte und Behauptungen ein Eigenleben, das nicht mehr zu kontrollieren und zu dekonstruieren ist. Gesehen hat man das bei der Debatte zum Migrationspakt in Facebook-Gruppen.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

News-Journalismus vielleicht. Alle anderen Formen: Nein, sicher nicht, schon alleine wegen der persönlichen Erlebnishorizonts der/des Journalisten/-in.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ich sehe vor allem im Nischen- und Fachjournalismus die grössten Chancen für eine zahlungsbereite Kundschaft, egal ob digital oder print. Wer sich spezialisiert, kann Aktualitäten einordnen und Hintergründe liefern.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Sehr selten, weil ich meine eigene Handschrift danach kaum entziffern kann.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Kurzfristig gesehen ein Gewinn (siehe steigende CNN-Reichweite während den Wahlen 2016 oder NYT-Abozahlen-Rekord). Langfristig schlecht aus den oben genannten Gründen (Misstrauen oder Verdrossenheit in das Mediensystem). Wenn ein Präsident Fakten wie die Geburtsurkunde von Barack Obama als «Meinung» abtut, dann ist das ein Freipass dafür, Lügen zu immunisieren und als Meinungsäusserung zu verkaufen. Auch das ist Gift für eine aufgeklärte Gesellschaft und vor allem für die Medien.

Wem glaubst Du?

Ich glaube der Person, die mir ihre Einschätzungen nicht als absolute, unumstössliche Wahrheit andreht, den Geltungsbereich ihrer Aussagen einschätzen und eingrenzen kann und dabei Restzweifel behält.

Dein letztes Wort?

Vielleicht zwei Dinge. Erstens: Wir sollten nie aufhören Fragen zu stellen. Das musste ich selber erst im Journalismus einmal lernen. Und zweitens: das Links-Rechts-Schema greift bei Internet-Themen immer weniger, es gibt auch Linke, die Tech-Monopole verteidigen, weil sie der Meinung sind, sie bieten fairere Kommunikationsbedingungen als traditionelle Werbemittel. Man muss das politische Koordinatensystem bei der Digitalisierung neu denken. Das war für mich bisher die spannendste Erkenntnis während meinen fünf Jahren im Journalismus.


Adrienne Fichter

Adrienne Fichter (* 1984) ist eine Schweizer Politologin und Redaktorin beim Online-Magazin Republik. 2009 baute Fichter als Mitgründerin und Community-Managerin das Web-Startup politnetz.ch auf, das 2012 mit dem Data Journalism Award und 2013 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde. Von 2012 bis 2014 war sie als Social-Media-Redaktorin bei der Wirtschaftsauskunftei Orell Füssli Wirtschaftsinformationen (heute CRIF AG) tätig. Danach arbeitete sie von 2014 bis 2016 als Social-Media-Redaktionsleiterin bei der NZZ.

Fichter ist als Dozentin und Referentin an der Fachhochschule St. Gallen und der Universität Zürich tätig. 2017 gab sie beim Verlag NZZ Libro das Buch Smartphone-Demokratie heraus, bei dem sie auch als Co-Autorin mitwirkte.

https://de.wikipedia.org/wiki/Adrienne_Fichter


Basel, 27. März 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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3 Kommentare zu "Adrienne Fichter: «Desinformation ist Gift für die Demokratie»"

  1. Interessante Menschen, die Sie da zum Fragebogen bitten. Nur kennt die meist keiner (ausser Insider…)
    Namen, welche auch befragt werden könnten:
    Schawinski (schon geschehen)
    Jonas Projer
    Club-Moderatorin
    Thomas Bär (ehem. DRS-Mitarbeiter, heute Wirt und Hotelier mit seiner Ursina im Weissen Kreuz in Bergün)
    Roger Thieriet
    M. Bannerth
    R. Köppel
    Arthur Honegger 10 vor 10
    M. Zehnder (selbst)
    Markus Gilli TeleZüri
    Hugo Bigi
    Markus Somm (z.Z. Fellow am renommierten Shorenstein Center on Media, Politics and Public Policy der Harvard Kennedy School in Cambridge, USA.)
    Hochinteressant, was der zu sagen hätte (halt mal das politische Heu auf der Bühne auf der Seite lassen wäre grosse Grösse…)
    Hansjörg Schulz (DRS/SRF) = interessanter Mann….
    usw… usw…
    Freue mich auf weitere interessante Fragebogen.
    Weiter so.

  2. Lieber Herr Zweidler, also Adrienne Fichter sollte in der Schweiz mittlerweile nicht nur Insidern ein Begriff sein. Unter anderem hat sie ein sehr spannendes Buch über Demokratie im Zeitalter von Handy und Sozialen Medien herausgegeben: «Smartphone Demokratie», das finden Sie hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783038102786
    Davon abgesehen: Danke für die Vorschläge, der eine oder andere steht auch auf meiner Liste. Interessant übrigens dass Sie nur Männer vorschlagen. ich versuche, zwischen Frauen und Männern abzuwechseln. Das ist interessanter.

    1. Stimmt, nur Männer…. War nicht Absicht, hat sich (anscheinend) so ergeben. Und Fr. A. Fiechter habe ich in der Vergangenheit wohl glatt überlesen…
      Weitere Namen – zwar nur aus dem Basler Dunstkreis, wohl aber auch spannend:
      Christian Keller, smarter Jungunternehmer (primenews.ch) und junger Familienvater mit Mut
      Willy Surbeck, Saftwurzel + ehem. Telebasel-Chefredaktor
      Christoph Schwegler, „die Stimme“
      „FM“, F. Mürner, Held (vom DRS Basel und Zürich)
      Hans Peter Hammel, Tradaraklatschtante alias -minu
      ….wieder nur Männer (purer Zufall), aber vor allem Menschen; welche interessant sein könnten….

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