Medientipp
Alles gesagt?
Ich liebe gute Interviews mit spannenden Menschen. Schade ist bloss, dass die meisten Interview-Podcasts von Radiostationen produziert werden und die ihre Gespräche in einen engen Senderaster einpassen müssen. So manch spannendes Gespräch etwa im «Focus» auf SRF 3 oder in «Eins zu Eins» beim Bayerischen Rundfunk wird gegen Ende mehr oder weniger abrupt abgebrochen, weil die Nachrichten nahen. Wie würden die gespräche wohl verlaufen, wenn es keinerlei Zeitlimiten gäbe? Genau das lotet der Podcast «Alles gesagt?» von «Zeit online» aus.
Christoph Amend, Chefredakteur des «Zeitmagazin», und Jochen Wegner, Chefredakteur von «Zeit online» reden so lange mit einem Gast, bis der aufgibt. Dazu vereinbaren sie mit dem Gast zu Beginn des Gesprächs eine Art «Safeword»: Wenn der Gast dieses Wort sagt, bricht das Gespräch ab. Allerdings kann das auch schief gehen. Im März sprachen die beiden mit Ex-«Tagesthemen»-Moderator Uli Wickert. Nach nur zwölf Minuten nannte der versehentlich sein Schlusswort «Giovanni» – und das Gespräch war vorbei. Das hat die Zuhörerinnen und Zuhörer aber so genervt, dass die beiden Männer von der «Zeit» Wickert noch einmal eingeladen haben. Beim zweiten Anlauf dauerte es dann (übrigens vor Publikum) deutlich über vier Stunden, bis Wickert sein Schlusswort (diesmal war es «Popocatépetl») aussprach und der Podcast ein Ende fand.
Im Normalfall dauern die Gespräche im Schnitt drei oder vier Stunden. Das letzte Gespräch mit der Journalistin und Autorin Carolin Emke dauerte über fünf Stunden, das Gespräch mit Youtuber Rezo dauerte sogar über acht (!) Stunden. Natürlich weisen solche Gespräche auch Hänger und seichtere Partien auf. Amend, Wegner und ihre Gesprächspartner essen und trinken während der Gespräche, das geht nicht ohne Schmatzen und Gluckern ab. Das Interessante an so langen Gesprächen ist aber, das man die Menschen wirklich gut kennenlernt – und zwar nicht nur die Gäste, sondern auch die Interviewer. Über acht Stunden kann man eine Rolle nicht spielen. Das hält man vielleicht eine Radiosendung lang aus, aber nicht viel länger. Die Gesprächspartner rücken einander deshalb manchmal ganz schön auf die Pelle.
Zur Sprache kommen deshalb nicht nur die grossen Fragen des Lebens, sondern auch die kleinen Dinge. Carolin Emke zum Beispiel redet nicht nur über das Schreiben, den Krieg und den Hass, sondern auch darüber, warum sie leidenschaftliche Anhängerin des Fussballvereins Borussia Dortmund ist, warum sie gerne Bircher Müsli isst – es wird ihr während der Aufnahme auch gleich serviert – und warum sie den Dschungel und seine Geräusche liebt.
Zu den bisherigen Gästen von Christoph Amend und Jochen Wegner gehören auch Ernährungsspezialist und Buchautor Bas Kast («Der Ernährungskompass»), die Soziologin Jutta Allmendinger und Musiker und Schauspieler Herbert Grönemeyer. Allen Podcasts ist gemeinsam, dass Journalisten und Gäste miteinander essen und trinken und darüber auch reden. Auf diese Weise entsteht ein lockeres Gespräch, das zuweilen wild und assoziativ mäandert, aber gerade deshalb viel aussagekräftiger ist als die üblichen, halb gescripteten Kurzinterviews. Kurz: «Alles gesagt» sprengt, ja pulverisiert die Grenzen, die das Radio jedem Gespräch setzt, und hebt das Genre Interview-Podcast auf ein neues Level.
https://www.zeit.de/serie/alles-gesagt
Basel, 26. November 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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