Raus aus dem Aufmerksamkeits-Hamsterrad der Medien
Diese Woche beantworte ich die Frage einer Leserin zum Thema digitale Zeitung. Die Leserin hat von einem Print-Abo zu einem reinen Digitalabo ihrer Zeitung gewechselt. Dabei ist ihr aufgefallen, dass einzelne Inhalte über Tage stehen bleiben, andere aber sehr rasch wechseln. Sie fragt sich deshalb: Arbeiten die Online-Tageszeitungen mit einem Algorithmus wie die Sozialen Medien? Wenn ja: Wie könnte ich mich dagegen schützen? Ich habe diese Frage ausgewählt, weil sie sehr gut zum Wochenkommentar von dieser Woche rund um Medienförderung passt. Reden wir also diese Woche darüber, wie die Algorithmen der Medien online funktionieren und wie wir dem Medien-Aufmerksamkeits-Hamsterrad entkommen können.
Leserin BH schreibt: Vielen Dank für Ihr tolles Angebot zur Beantwortung von Fragen rund um das digitale Leben. Ich bin etwas verspätet, hoffe aber, dass Sie meine Frage noch berücksichtigen können.
Klar, kein Problem. Da gibt es keinen Einsendeschluss. Wenn Sie auch eine Frage haben, klicken Sie einfach hier.
Leserin BH schreibt weiter: Seit ein paar Monaten habe ich ein Online-Abo einer Tageszeitung. Ich hatte das Print-Abo vor gut einem Jahr gekündigt, weil ich mit der Qualität unzufrieden war. Nach einer gewissen Zeit habe ich dann doch die Informationen zu Tagesaktualitäten in der Region vermisst und mich für das online-Abo entschieden (da billiger und hoffentlich mit besserer Energiebilanz).
Nun hege ich den Verdacht, dass die Inhalte oder zumindest deren Reihenfolge oder Push-Meldungen einem Algorithmus unterliegen und mein Leseverhalten quasi den Aufbau bestimmt. Zudem habe ich Mühe mit den zeitlich überlappenden Inhalten – der gleiche Artikel wird mir über mehrere Tage angezeigt, aber andere Artikel, die mich auch noch interessieren würden, übersehe ich oder stosse erst später darauf.
Arbeiten die online-Tageszeitungen tatsächlich mit einem Algorithmus und wie könnte ich mich dagegen schützen? Sollte ich ein Profil mit Suchbegriffen anlegen (falls möglich) oder bewirkt das genau das Gegenteil (da ich ja meine Präferenzen offenlege)?
Liebe BH, da sind Sie auf einen ganz wesentlichen Punkt gestossen. Die Onlineangebote der (meisten) Zeitungen unterscheiden sich heute in wesentlichen Punkten von einer gedruckten Zeitung. Eine Zeitung aus Papier hat eine Frontseite und eine Rückseite und 26 bis 30 Seiten dazwischen. Es ist also ein begrenztes Angebot, das auf den Erscheinungstag der Zeitung hin abgeschlossen wird.
Online gibt es keine «Ausgabe» mehr. Online ist immer im Fluss. Die meisten Zeitungen bewirtschaften heute mindestens drei «Peaks»: Sie schauen darauf, dass sie jeweils auf die Pendelzeit am Morgen, auf die Mittagspause hin und auf die Pendelzeit am Abend aktuelle oder aktualisierte Beiträge online haben. Anders als bei der gedruckten Ausgabe ist es dabei nicht das Ziel, die Leserin, den Leser innert nützlicher Frist abschliessend zu informieren. Ziel ist es, dass er (oder sie) das Onlineangebot möglichst oft besucht und dann möglichst lange online bleibt.
Erreicht wird das unter anderem, indem die Zeitung Push-Meldungen verschickt, die immer eine gewisse Dringlichkeit ausstrahlen. Simples Beispiel von dieser Woche: «Der Trend zeigt nach oben: Das BAG meldet 1478 Neuinfektionen und 7 Tote.» (Pushmeldung «bzBasel») Die Pushmeldung bietet keine Information, sondern nur Daten. Wer informiert werden will, muss schon auf die Meldung tippen und den Artikel anschauen – und damit die Auslieferung der Werbung ermöglichen. Noch weniger Information bieten Push-Meldungen, die auf Live-Berichterstattungen hinweisen: «Diskussionen über nationale Impfoffensive. Jetzt live: Was sagt Berset nach dem Treffen mit den Kantonen?» (Pushmeldung «Basler Zeitung») Die Zeitung weiss noch nicht einmal, was Berset sagt, die vermeldete Sensation besteht darin, dass sich der Gesundheitsminister äussern wird (was er regelmässig nach Gesprächen mit den Kantonen zu tun pflegt). Die Pushmeldung führt auf einen «Live-Blog»: Das ist eine Art Instant- Berichterstattung. Statt die Pressekonferenz abzuwarten und danach das wichtigste zusammenzufassen, schreiben Journalisten live auf, was Bundesrat Berset gerade sagt. Es ist, wie wenn Sie in einem Restaurant an Stelle eines Gerichts die unverarbeiteten Zutaten serviert erhalten würden. Ziel der Sache ist aber auch nicht die kompakte Information. Ziel ist es, die Nutzer möglichst oft möglichst lange online zu halten.
Deshalb sind Onlinezeitungen auch nicht aufgebaut wie eine Printzeitung. Die meisten Onlinezeitungen erinnern heute an den Newsfeed von Facebook: Sie tischen in einen Onlinekanal alle Nachrichten auf und ordnen die Nachrichten nach verschiedenen Kriterien. Dazu gehören sicher Aktualität und Wichtigkeit, aber auch Lese- respektive Klick-Potenzial und Regionalität. Diese Ordnungsregeln lassen sich gut auch als Algorithmus bezeichnen. Der Algorithmus ist nicht so kompliziert und ausgefeilt wie bei Facebook, unter anderem schlicht deshalb, weil die Onlinezeitungen viel weniger über ihre Leserinnen und Leser wissen. Vermutlich steckt in den meisten Fällen auch noch Handarbeit drin, Redakteure steuern also von Hand, an welcher Position im Feed ein Artikel zu stehen kommt. So oder so lässt sich das Ordnungsprinzip aber als Algorithmus bezeichnen – und wie bei Facebook besteht letztlich keine Transparenz darüber.
Auf lange Sicht möchten die Schweizer Verlage ihre Nutzerinnen und Nutzer besser kennen lernen. Dafür haben die grossen Verlage eine Login-Allianz gegründet: Tamedia, Ringier, CH Media, NZZ und SRG wollen ein gemeinsames Medien-Login in der Schweiz etablieren. Langfristiges Ziel ist es dabei, den einzelnen Leser über die Produkte hinweg verfolgen zu können und auf diese Weise der Werbebranche attraktivere, personalisierte Werbeangebote unterbreiten zu können. Das Login wird aber auch dazu verwendet, die einzelnen Angebote zu personalisieren.
Die Verlage versuchen auf diese Weise, gegenüber Facebook, Instagram und Google Boden gut zu machen. Die grossen Tech-Firmen holen in der Schweiz heute über drei Viertel des Werbeumsatzes mit Displaywerbung. Das ist Werbung in Form von Bannern – Suchmaschinenwerbung ist da noch nicht einmal eingerechnet. Alle Schweizer Verlage zusammen machen nur gerade einen Viertel des Werbeumsatzes mit Bannern in der Schweiz.
Für die Benutzerinnen und Benutzer heisst das: Die Verlage machen längst keine Online«zeitungen» mehr. Sie betreiben nachrichtengetriebene Onlineplattformen und versuchen mit Pushmeldungen und der Anordnung der Meldungen auf der Plattform so viel Aufmerksamkeit wie möglich zu holen.
Die Nachteile dieser Strategie sind genau jene Punkte, die Leserin BH beschreibt: Die Reihenfolge der Inhalte ist undurchsichtig. Die Angebote sind stark Neuheiten getrieben: Zuoberst steht nicht unbedingt das, was wichtig ist, sondern vor allem das, was im Moment gerade viele Klicks holt. Interessante Inhalte verschwinden plötzlich, man kann sich nicht darauf verlassen, einen Text eine Stunde später noch auf dem Display zu haben.
Wer ich nicht mit Nachrichtenangeboten anfreunden will, die sich mehr und mehr verhalten wie Facebook, hat grundsätzlich drei Möglichkeiten:
1) E-Paper
Die meisten Zeitungen bieten im Rahmen ihrer Digitalabos auch ein Abo an, dass den Zugriff auf das E-Paper ermöglicht, also auf die digitale Ausgabe der gedruckten Zeitung. Bei der «NZZ» und bei den Zeitungstiteln von CH Media (etwa der «bzBasel») ist dafür ein (teureres) Abo «Digital plus» nötig. Bei Tamedia («Basler Zeitung») kostet der Zugriff aufs E-Paper eine Zusatzoption, die CHF 10.– im Monat kostet. Die digitalen Ausgaben der Zeitungen lassen sich herunterladen und abspeichern – wichtige Artikel verliert man auf diese Weise nicht aus den Augen.
2) Digitale Alternativen
Eine Alternative zu den Facebook-artigen Newsfeeds sind Angebote, die sich bewusst auf das Wesentliche konzentrieren. Drei Beispiele dafür:
Das wohl beste tägliche Nachrichten-Briefing der Schweiz produziert die «NZZ»: Jeweils am morgen und am Abend informiert die «NZZ» in ihrem Briefing über die wichtigsten Nachrichten. Schwerpunkt dieser Briefings: Nationale und internationale Politik.
https://abo.nzz.ch/benutzerkonto/newsletter/
Wer sich regional auf dem Laufenden halten möchte, findet in den digitalen, lokalen Alternativen gute Briefings. Bajour in Basel, Tsüri in Zürich, Zentralplus in der Innerschweiz und neu bald die «Hauptstadt» in Bern.
https://bajour.ch/briefing?modal=baselbriefing
https://tsri.ch/briefing/
https://www.zentralplus.ch/
https://hauptstadt.be/
3) Die Angebote von SRF
Ebenfalls nicht Teil der aufmerksamkeitsorientierten Werbeverkaufsmaschinerie im Internet sind die Angebote von SRF, ganz besonders die Podcasts.
Die Kurzübersicht am Morgen bietet «Heute Morgen»
Die Regionaljournale schaffen Übersicht in den Regionen, zum Beispiel in der Region Basel das Regionaljournal Basel Baselland
Natürlich gibt es die klassischen Nachrichtensendungen «Rendez-vous am Mittag» und «Echo der Zeit» als Podcast. Alle zwei Wochen schafft «Einfach Politik» einen gut verständlichen Zugang zu einer aktuellen, politischen Frage.
Eine Übersicht über alle Podcast-Angebote von SRF finden Sie hier.
Basel, 21. Oktober 2021, mz@matthiaszehnder.ch
Matthias Zehnders «Leben digital» hilft Powerusern, Selbstständigen und KMUs, mit konkreten Tipps und Tricks das digitale Leben besser zu bewältigen, damit sie mehr Zeit und Energie für jene Dinge (und Menschen) aufwenden können, die ihnen lieb und wichtig sind. Ihre Fragen zum digitalen Leben erreichen mich jederzeit über diesen Link hier oder direkt unten in der Kommentarspalte.
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