SRG-Generaldirektor Gilles Marchand:
«Wir brauchen wieder mehr ‹Idée Suisse› bei der SRG»

Publiziert am 11. Mai 2018 von Matthias Zehnder

SRG-Generaldirektor Gilles Marchand wehrt sich dagegen, dass rechte Politiker und die Verleger der SRG das Internet verbauen wollen. Er möchte in der Schweiz eine Art Netflix für die Inhalte aller SRG-Sender aufbauen. Wichtig sei, dass alle Gebührenzahler auf einer Plattform auf die Inhalte aller SRG-Sender Zugriff hätten. Es müsse wieder klar sein, dass alle SRG-Einheiten gemeinsam für die ganze Schweiz arbeiten. Er sagt deshalb im Interview mit MatthiasZehnder.ch: «Wir brauchen wieder mehr ‹Idée Suisse› bei der SRG».

Gilles Marchand sitzt in seinem Büro im 10. Stock der SRG-Generaldirektion an der Giacomettistrasse in Bern mit dem Rücken zur Aussicht. Lieber als die Landschaft sieht der die Bildschirme, die seine Programme anzeigen. Seit Oktober 2017 ist Marchand Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG. Obwohl die SRG unter ihm die heikle NoBillag-Abstimmung mit Bravour überstanden hat, sind die Aussichten, die ihm die Schweiz derzeit anbietet, alles andere als freundlich. Kein Wunder, schaut er sich lieber das eigene Programm an.

Zur Debatte stehen in nächster Zeit die Konzession der SRG und ein neues Mediengesetz. Die laufende Konzession gilt nur noch bis Ende Jahr. Das Bakom hat deshalb einen Entwurf für eine neue Konzession vorgelegt und will damit insbesondere die Internetpräsenz der SRG regeln. Dagegen wehrt sich die alte Allianz von Gewerbeverband und Rechtspolitikern, verstärkt um Verleger und Privatradios. Viele Antworten zur Vernehmlassung der SRG-Konzession sehen die Onlineaktivitäten der SRG sehr kritisch. Der Verband Schweizer Medien (VSM), also der Verlegerverband, schreibt zum Beispiel: «Der Kampf um die Aufmerksamkeit der einzelnen Nutzer und Medienkonsumenten wird sich mit einer auch online publizistisch stärker präsenten SRG weiter akzentuieren.»[1]

Herr Marchand, wie gehen Sie damit um, dass der VSM und viele andere, die sich in der Vernehmlassung geäussert haben, die SRG um ihre Zukunft im Internet bringen wollen?

Gilles Marchand, seit Oktober 2017 Generaldirektor der SRG. (Bild: SRG SSR, Thomas Plain)

Bon. Es ist ganz einfach: Wir können nicht ohne Internet-Distribution leben, weil unser Publikum so funktioniert heute. Ich glaube, dass wir zwischen drei verschiedenen Ebenen unterscheiden müssen. Die erste Ebene ist die Ausstrahlung von Radio und Fernsehen per Internet, also die lineare Distribution. Da haben wir die Legitimation. Die zweite Ebene betrifft die Produktion. So lange wir mit den Audio- und Video-Inhalten online gehen, die wir im herkömmlichen Radio und Fernsehen ausgestrahlt haben, gibt es ebenfalls keine Probleme. Die Frage ist, was mit speziell für online produzierten Inhalten ist. Ich glaube, dass wir auch das Publikum im Internet erreichen müssen und das Internet hat nun mal ein eigenes Narrativ, also eigene Erzählformen. Wir müssen dieses Narrativ lernen und pflegen, damit wir die Menschen auch in Zukunft erreichen können. Das heisst: Wir brauchen speziell für online produzierte Inhalte.

Und die dritte Ebene?

Die dritte Ebene ist die Kommerzialisierung, also die Onlinewerbung. Hier müssen wir uns zurückhalten, weil die Verleger und die privaten Anbieter glauben, dass wir sie konkurrieren würden. Ich glaube, das stimmt nicht. Ich glaube vielmehr, die SRG würde dazu beitragen, den Online-Werbemarkt in der Schweiz zu entwickeln. Aber wir akzeptieren die Ablehnung der Verleger und halten uns zurück.

Schlüsseln wir das «online publizistisch stärker präsent» etwas auf: Richtet sich die Opposition der Verleger nur gegen die Websites der Sender oder auch gegen Vektoren im Internet, also etwa die Play-Apps, Podcasts oder Liveübertragungen via Internet?

Ich glaube, alles, was live ist, das ist problemlos, weil das wie das herkömmliche Radio oder Fernsehen ist. Die ersten Fragen kommen mit der A-la-carte-Strategie, also wenn es darum geht, online eine Plattform für unsere bestehenden Inhalte zu bauen. Aber der Moment ist gekommen, wir können nicht mehr nur lineare Angebote machen, wir müssen auch On-Demand-Angebote aufbauen. Ich glaube, dass diese A-la-carte-Strategie mit Inhalten aus den gesendeten Programmen nicht so problematisch ist. Wir haben uns bereit erklärt, künftig auf Webinhalte auf den News-Seiten von SRF, RTS und RSI zu verzichten, wenn sie keinen Audio- oder Videobeitrag begleiten. Wir werden also keine reinen Textbeiträge mehr publizieren. Grundsätzlich macht die SRG Audio und Video – auch im Internet.

So lange diese Inhalte aus den Radio- und Fernsehprogrammen stammen, ist das akzeptiert. Aber noch einmal zu den Inhalten, welche die SRG speziell für das Internet produziert. Was ist damit?

Ich glaube, es ist wichtig, dass wir auch Audiobeiträge und Videos nur für das Internet kreieren, weil wir lernen müssen, wie man das Publikum online erreicht. Überhaupt dreht sich für uns die ganze Frage um das Publikum. Die Hauptfrage ist deshalb: Welche Bedürfnisse hat das Publikum? Zweifellos ist das Bedürfnis, à la carte Inhalte auswählen zu können, viel grösser als früher. Als Service Public-Unternehmen müssen wir diesen Bedürfnissen nachkommen, weil wir sonst zu einem Service ohne Public würden.

Futurologe Ben Hamersley sagte kürzlich an den Radiodays Europe in Wien, das Radio sei tot, aber «wir leben in einem goldenen Zeitalter für Audio».[2] Er sieht also schwarz für das lineare Radio, er sieht die Zukunft im Internet, etwa in Podcasts oder Audio-Services für Smart Speaker wie Amazons Alexa. Wie sehen Sie die Zukunft des Radios?

Ich glaube, wir brauchen beide Entwicklungen. Es gibt immer noch viele Menschen, die Radio hören, die sich durch das Radio begleiten lassen. Ein gutes Beispiel sind unsere Morgenangebote: Viele Menschen beginnen ihren Tag mit Radio. In der Westschweiz, auf Radio RTS, sprechen wir dabei primär, in der Deutschschweiz, auf Radio SRF, hört man viel Musik. Dieses Morgenradio bleibt ganz sicher ein Bedürfnis. Aber es gibt auch eine sehr wichtige Zukunft in Richtung Podcast, also ein A-la-carte-Angebot für Radiosendungen, oder in Richtung Smart-Speaker wie Alexa. Mit Angeboten für Alexa und Google home sammeln wir in der Deutschschweiz und in der Romandie gerade erste Erfahrungen.

Die SRG-Angebote gibt es also künftig auch für Alexa und Google Home?

Die Frage ist vor allem, welche Kanäle das Publikum akzeptiert und nutzt. In der Zukunft werden unsere Toninhalte möglichst über alle Vektoren verfügbar sein. Unser Ziel ist es dabei, auch auf Smart Speakers die gute Qualität zu erreichen, die man sich von uns gewohnt ist. Ich glaube, dass wir als Service Public-Anbieter weiterhin der Qualität verpflichtet sein sollten.

SRF und RTS gibt es jetzt auch auf Smart Speakers wie Amazon Alexa (Bild).

Kommen wir zum Fernsehen. Das ist da unbestritten, wo es um Live-Momente geht, etwa bei Live-Übertragungen von Sportereignissen. Einmal davon abgesehen – wollen Sie das Schweizer Fernsehen im Internet zu einer Art Schweizer Informations-Netflix entwickeln, oder wollen sie die eigenen Filme eher bei Netflix anbieten?

Das ist eine ganz schwierige Frage: Sollen wir selbst Plattformen aufbauen oder sollen wir unsere Inhalte über bereits bestehende Plattformen wie Netflix anbieten? Ich glaube, wir müssen die Plattformen selber bauen. Idealerweise schliessen sich die öffentlich-rechtlichen Sender in Europa zusammen und bauen gemeinsam eine Art paneuropäisches Open-Netflix.

Das dürfte aber länger dauern, bis sich die Anbieter in England, Frankreich, Deutschland und all den kleinen Ländern geeinigt haben.

Ja, das ist das Problem. Das dauert sehr lange. Wir müssen deshalb in der Schweiz eine eigene Plattform für die SRG-Inhalte bauen. Bis jetzt gibt es solche Angebote nur getrennt für SRF, RTS, RTR und RSI. Ich glaube, wir brauchen in der Schweiz eine SRG-Plattform, die in allen Regionen der Schweiz die Inhalte aus allen Sprachregionen anbietet. Fremdsprachige Angebote können, wo sie sich nicht synchronisieren lassen, ja untertitelt werden. Die Deutschschweizer bezahlen 73 % der Radio- und Fernsehgebühren, wir investieren wir aber nur 43 % der Gebühren in der Deutschschweiz. Mit einer solchen SRG-Plattform hätten die Deutschschweizer Zugriff auf alle Inhalte. Wir könnten ihnen etwas zurückgeben und etwas für die Kohäsion der Schweiz tun.

Würde das funktionieren? Interessieren sich die Deutschschweizer für Inhalte aus der Romandie oder dem Tessin?

Ich arbeite ja schon lange im Unternehmen, aber ich entdecke immer wieder Preziosen in den Programmen von SRF und RSI, von denen ich keine Ahnung hatte. Ich glaube deshalb schon, dass das funktionieren würde. Eine solche Plattform würde auch dem Auftrag der Konzession entsprechen, die klar sagt, dass wir für die ganze Schweiz arbeiten müssen. Mein Ziel ist deshalb eine gesamtschweizerische Plattform mit allen Inhalten für alle. Das wäre dann, wenn Sie so wollen, ein «SRG-Netflix» – nur würden alle Inhalte, auch die Inhalte aus unserem Archiv, der Schweizer Bevölkerung kostenlos zur Verfügung stehen, weil sie die Inhalte ja über die Gebühren schon bezahlt hat.

Wir reden jetzt über die SRG – aber gibt es für die Mitarbeiter und das Publikum überhaupt eine SRG? Zerfällt die SRG nicht vielmehr in SRF, RTS, RSI und RTR?

Das ist eine sehr gute und schwierige Frage Es gibt ein Paradox: Wir habe nur eine Konzession, nur ein Gesetz, nur eine Gebühr, aber wir haben vier Unternehmenseinheiten, die sehr unterschiedlich aufgestellt sind. Es gibt also eine SRG, die als Apparat oder als Infrastruktur gesehen wird, und es gibt die verschiedenen Programmeinheiten. Die Programmeinheiten werden positiv wahrgenommen, die Kritik richtet sich meistens gegen die SRG. Aber die meisten Menschen erleben die SRG gar nicht. Die SRG hat kaum eine eigene Identität. Deshalb müssen wir für die Akzeptanz der SRG etwas unternehmen. Dafür haben wir einige Ideen, die SRG-Plattform in allen Sprachen ist eine davon. Früher, mit dem Branding der SRG als «Idée Suisse» war das vielleicht etwas anders. «Idée Suisse» heisst: Wir arbeiten zusammen für die ganze Schweiz. Wir brauchen wieder mehr «Idée Suisse» bei der SRG.

Bietet das alte Logo die Idee für neue Inhalte? So sah bis Ende 2010 das Logo der SRG aus.

Die privatwirtschaftliche Medienkonkurrenz steht unter riesigem Druck – und wird gezwungenermassen agil und innovativ. Wie halten Sie Ihre Mitarbeiter in Bewegung?

Also innovativ sind wir auch. Es gibt viele sehr interessante Innovationsprojekte innerhalb der SRG, respektive in den Unternehmenseinheiten. Unsere Mitarbeiter sind sich bewusst, dass es ein Privileg ist, für die SRG arbeiten zu können und sie sind stolz darauf. Die Finanzierung über Gebühren ermöglicht es, in längeren Zeithorizonten zu denken. Bei der SRG ist es möglich, ein Projekt auf drei Jahre anzulegen. Das ist auch gut für die Mitarbeiter, weil sie die Zeit haben, gute Dinge zu entwickeln. Dank der Konvergenz kann man innerhalb der SRG zudem sehr interessante Karrieren machen und zum Beispiel vom Radio über das Internet zum Fernsehen kommen. Das sind spannende und wertvolle Möglichkeiten für junge Mitarbeiter. Und nicht zuletzt ist der Kern der SRG als Service-Public-Unternehmen ein Wertekanon, auf dem wir basieren. Diese Werte sind sehr wichtig. Es war eine interessante Erfahrung in der NoBillag-Abstimmung, dass sich gerade auch viele Junge für diese Werte einsetzen und sie schätzen. Je mehr Fake-News wir erleben, desto mehr brauchen wir einen Service Public, der seine Nachrichten überprüft. Das sind gute Argumente, gerade auch für die Jungen.

Die SRG hat zwar die NoBillag-Abstimmung gewonnen, viele Gewissheiten sind aber im Abstimmungskampf ins Wanken geraten. Wo steht die SRG in fünf Jahren?

Sie steht immer noch in den vier Sprachregionen, sie ist immer noch ihren Werten verpflichtet, der unabhängigen und ausgewogenen Information, der Investition in kulturelle Beiträge. Die SRG steht auch in fünf Jahren noch dafür, das Publikum zu vereinen und die SRG besteht gleichermassen in den klassischen Medien und in der neuen, digitalen Welt. Und am Ende arbeitet die SRG für das Publikum und nicht nur für Aktionäre. Ich glaube, dass ein Land einen starken medialen Service Public braucht, um seine audiovisuelle Zukunft zu sichern. Ich glaube, die NoBillag-Initiative hat viele Kritikpunkte aufgezeigt, aber auch bewiesen, dass die SRG für unser viersprachiges Land wichtig ist.

Basel, 11. Mai 2018, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Bild Header: © SRG SSR, Danielle Liniger

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Siehe dazu auch mein Wochenkommentar vom 11. Mai 2018:
Warum wir eine starke SRG im Internet brauchen

[1] Vgl. http://www.schweizermedien.ch/getattachment/62603c33-ff5d-498b-bfd5-a9d0e55577ee/Vernehmlassung-SRG-Konzession-VSM-fordert-Sistierung.aspx

[2] Vgl. http://www.radioszene.de/120064/ben-hammersley-radio-ist-tot.html oder https://radiotoday.co.uk/2018/03/radio-is-dead-claims-futurist-at-radiodays/

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