Die offene Gesellschaft und ihre Feinde

Publiziert am 28. November 2015 von Matthias Zehnder

Der Euro-Airport Basel-Mulhouse hat am Mittwoch die Grenzkontrollen verschärft: Die Polizei unterzieht künftig alle Passagiere am Flughafen systematischer Kontrollen. Ausgenommen sind lediglich Fluggäste von und nach französischen Flughäfen. Die Schweizer Grenzwacht musste nachziehen, deshalb werden auch Passagiere genauer kontrolliert, die vom Schweizer Teil des Flughafens aus abfliegen.

Die Massnahmen am Basler Flughafen sind vergleichsweise harmlos. Im Kampf gegen den Terror fordern Politiker und Journalisten den Staat derzeit zu radikalem Handeln auf. Die Forderungen reichen von geschlossenen Grenzen über Asylstopp, Spezialkontrollen für Syrer, generell stärkeren Ausländerkontrollen und einer generellen Muslimüberwachung bis zur Totalüberwachung von Internet und Telekommunikation. Wer die Vorschläge kritisiert, wird schnell als staatsfeindlich und terrorfreundlich denunziert. Die Kräfte, die mit allen Mitteln unsere offene Gesellschaft schützen wollen, bedrohen genau diese offene Gesellschaft selbst.

Das ist kein Paradox, das hat der Philosoph Karl Popper schon 1945 in seinem Buch «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde» beschrieben. Popper entwirft das Bild einer offenen Gesellschaft vor dem Hintergrund der Bedrohung durch totalitäre Staaten des Faschismus oder Kommunismus. Seine offene Gesellschaft ist nicht bedingungslos an einzelne Werte geknüpft, wie es nationalistisch oder ideologisch fixierte Gesellschaften sind. Die offene Gesellschaft beruht vielmehr auf «Trial and Error»: auf dem intellektuellen Diskurs, der Kritik und der schrittweisen Veränderung und Anpassung. Die freie Demokratie war für Karl Popper die einzige Herrschaftsform, unter der sich eine offene Gesellschaft entwickeln kann. Nicht etwa, weil die Demokratie die Herrschaft der Mehrheit ist, sondern weil sich nur in einer Demokratie die Regierenden ohne Blutvergiessen absetzen lassen.

Popper entwirft also das Modell einer pluralistischen Gesellschaft, in der sich Fortschritt langsam und graduell einstellt. Es ist ein Staat, der rational handelt, behutsam und Schritt für Schritt vorgeht und die Ergebnisse fortwährend kritisch überprüft. Popper ist sich sicher: Auf diese Weise ist die Gefahr eines Scheiterns viel geringer und es sind weniger Menschen von möglichen negativen Folgen betroffen. Zentraler Punkt der offenen Gesellschaft ist die Gewaltenteilung: Es darf nie zu viel Macht in einer Hand zusammenkommen, weil die Gefahr des Missbrauchs zu gross ist. Ein Ausnahmezustand, wie ihn Frankreich im Kampf gegen den Terror verhängt hat, verstösst deshalb gleich gegen eine Reihe von Prinzipien einer offenen Gesellschaft.

Der Angriff der Terroristen in Paris war ein Angriff auf die offene Gesellschaft. Natürlich muss der Staat, müssen die Staaten sich mit ihren Polizeikräften wehren und die freien Bürger schützen. Wir dürfen die Totalität des Angriffs der Terroristen aber nicht mit Autoritarismus und Ideologie begegnen. Unser Rechtsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass er den Menschen Freiheit lässt, indem er ihnen Sicherheit gibt. Die Sicherheit darf die Freiheit dabei aber nicht eliminieren.

Popper schreibt: „Unsere Kriege sind im Grunde Religionskriege; es sind Kriege zwischen rivalisierenden Theorien darüber, wie eine bessere Welt geschaffen werden kann.“ Terroristen schreien uns mit Sprengstoffgürteln und Kalaschnikows ihre absolute Wahrheit entgegen. Es besteht die Gefahr, dass wir darauf mit eigenen, absoluten Wahrheiten reagieren. Doch eine offene Gesellschaft zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie keine Antworten vorgibt, sondern nur ein Funktionsprinzip: das der offenen, gleichberechtigten Diskussion. Sei es im neu zusammengesetzten National- und Ständerat, sei es hier in Basel im Grossen Rat oder im Landrat in Liestal – offen bleibt unsere Gesellschaft nur, wenn Ideologie und Nationalismus keinen Eingang in die Ratssäle finden. Die Politik ist das Bohren harter Bretter „mit Leidenschaft und Augenmass zugleich“, wie Max Weber sagte. Ob die Bretter dick oder hart sind, spielt keine Rolle. Wichtig sind Augenmass und Leidenschaft – und das Meiden von ideologischen Scheuklappen. Anders gesagt: Das Wichtigste an der offenen Gesellschaft ist die Offenheit.

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