Die grosse Mär von der Unabhängigkeit der Schweiz

Publiziert am 24. Mai 2015 von Matthias Zehnder

Es seien schwierige Zeiten, jetzt müsse man für die Erhaltung der Schweizer Unabhängigkeit kämpfen. Denn diese Schweizer Unabhängigkeit sei bedroht. So lautet der Refrain von Neo-SVP-Politiker Roger Köppel, von Alt-Bundesrat Christoph Blocher und von vielen anderen nationalkonservativen Politikern. Ganz selbstverständlich werden von vielen Medien dabei zwei Aussagen weitertransportiert. Erstens: Die Schweiz ist unabhängig. Zweitens: Diese Unabhängigkeit ist in Gefahr. Aber stimmt das wirklich?

Zunächst: Was heisst «Unabhängigkeit»? Wer unabhängig ist, der ist nicht auf jemand anderes angewiesen und nicht von etwas anderem beeinflusst. Erfüllt das die Schweiz? Politisch meint Unabhängigkeit das Recht eines Staatswesens, seine Entscheidungen auf dem eigenen Terrain selbst zu treffen. Wenn die Schweiz unabhängig ist, dann ist ihre Handlungsfreiheit nicht eingeschränkt; sie ist nicht fremdbestimmt, sondern frei. Aber ist sie das wirklich?

Natürlich ist die Schweiz frei. Die Schweiz kann sich frei entscheiden — aber sie muss dann auch die Konsequenzen dieser Entscheidungen tragen. Freiheit beinhaltet immer auch die Pflicht, die Verantwortung für das Wahrnehmen der Freiheit zu übernehmen. Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative ist dafür ein gutes Beispiel: Natürlich ist die Schweiz frei, die Masseneinwanderungsinitiative in die Verfassung zu schreiben und entsprechende Gesetze zu erlassen. Schliesslich ist die Schweiz nicht Mitglied der EU. Aber die Schweiz muss dann auch die entsprechenden Konsequenzen tragen, welche die EU aus der freien Entscheidung der Schweiz zieht. Eine EU übrigens, von der die Schweiz zwar profitieren, der sie aber nicht beitreten will, was die einseitige Abhängigkeit von der EU vergrössert.

Unabhängigkeit hat aber noch einen an- deren Aspekt: Unabhängigkeit als Autarkie. Ein Selbstversorger ist unabhängig. Die Schweiz ist das definitiv nicht. Unser einziger Rohstoff ist das Salz. Alle anderen Rohstoffe werden importiert. Abhängig ist die Schweiz dabei insbesondere von Öl- und Gaslieferungen und von einer guten Integration in den europäischen Strommarkt. Auch bei Lebensmitteln ist die Schweiz auf Importe angewiesen: Die Schweiz produziert nur etwa 60 Prozent der benötigten Nahrungsmittel selbst. Dabei steckt auch in Schweizer Produkten viel Ausland drin. So ist die Schweizer Fleischproduktion stark von importierten Futtermitteln wie Soja abhängig. Der Nettoselbstversorgungsgrad der Schweiz beträgt deshalb nur gerade 55 Prozent. Nicht einmal während der Anbauschlacht des Zweiten Weltkriegs war die Schweiz in der Lage, sich selbst zu ernähren — geschweige denn heute, mit mehr Einwohnern und weniger Landwirtschaftsfläche.

Dazu kommen viele weitere Güter und Leistungen, welche die Schweiz aus dem Ausland importiert. Geräte, vom Computer bis zum Auto. Bücher, Zeitschriften, Fernsehprogramme, Filme. Und natürlich Fachkräfte: Die Schweiz bildet seit Jahren zu wenig Ärzte, Ingenieure und Informatiker aus. Oder das Internet: Eine leistungsfähige Anbindung ans internationale Internet ist für die Wissensgesellschaft zentral. Die Schweiz ist deshalb auch abhängig vom europäischen Rechtsraum. Die Schweiz (und Basel sowieso) ist also keine unabhängige Insel, sondern höchst abhängig von einer engen Vernetzung mit den umliegenden Ländern. Eine mythische Unabhängigkeit wie eine Monstranz vor sich herzutragen, bringt nichts. Die Schweiz braucht im Gegenteil mehr Bewusstsein über ihre Abhängigkeit. Schliesslich: Ist die Unabhängigkeit der Schweiz bedroht? Wenn man unter Unabhängigkeit Autarkie versteht, dann ja. Die Vernetzung der Schweiz mit der übrigen Welt hat stark zugenommen. Das ist die Folge von Globalisierung und Digitalisierung. Die Schweiz wird immer abhängiger von der übrigen Welt, vor allem vom übrigen Europa. Das ist aber kein politisches Problem der Schweiz, sondern die sachliche Folge einer weltweiten Entwicklung, von der die Schweiz ein Teil davon ist. Wenn die Politik vor dieser Entwicklung die Augen verschliesst und auf Unabhängigkeit pocht, erweist sie der Schweiz einen Bärendienst. Die Stärke der Schweiz hat nie in ihrer Unabhängigkeit gelegen, sondern im cleveren Ausnutzen von Handlungsoptionen, die aus der Einsicht in ihre Abhängigkeit entstanden sind.

Frei macht uns deshalb nicht das Pochen auf unsere Unabhängigkeit, sondern das Eingeständnis unserer Abhängigkeit.

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