Buchtipps

Zum Wochenkommentar gibt Matthias Zehnder jede Woche einen Buchtipp. Es handelt sich dabei jeweils um ein aktuelles Sachbuch, das zum Wochenkommentar passt oder auf dem der Wochenkommentar beruht. Wenn Sie das Wochenmail zum Wochenkommentar abonniert haben, erhalten Sie den Buchtipp jede Woche per E-Mail. Für alle anderen  sind die Buchtipps hier chronologisch aufgeführt. Erhältlich sind die Bücher in der Basler Buchhandlung Bider&Tanner. Da liegt das aktuelle Buch jeweils auf dem Sachbuchtisch auf.

Hier geht es zu den Buchtipps aus dem Jahr 2017: Buchtipps 2017

Hier unten finden Sie ältere Buchtipps:

Buchtipps März 2016
Buchtipps April 2016
Buchtipps Mai 2016
Buchtipps Juni 2016

Sommerlesetipps: Biografien
Sommerlesetipps: Sachbücher

Aktuelle Tipps:

Meinen Hass bekommt ihr nicht.

Buchtipp zum Wochenkommentar vom 22.7.2016: Nachdenken statt Nachtreten

buch1629leiris«l’homme sans haine» nennen sie ihn in Frankreich. Dabei ist Antoine Leiris eigentlich ein ganz gewöhnlicher, junger Mann. Er ist 35 Jahre alt, lebt in Paris und arbeitet als Kulturredakteur bei den französischen Radiosendern France Info und France bleu. Am 13. November 2015 passt er zu Hause auf seinen 17 Monate alten Sohn Melvil auf. Seine Frau besucht ein Konzert im Bataclan. Aus den Nachrichten erfährt er, was da passiert ist: Drei Terroristen waren ins Konzertlokal eingedrungen und hatten mit einer Kalaschnikow wahllos um sich feuernd rund 80 Menschen getötet und viele weitere schwer verletzt. Antoine Leiris versucht, seine Frau per Telefon zu erreichen. Sie nimmt nicht ab. Er organisiert Verwandte, die sich um Melvil kümmern und fährt los. Er sucht seine Frau. Sie ist von den Terroristen erschossen worden. Antoine Leiris verarbeitet seine Trauer, indem er schreibt. Zuerst eine Facebooknachricht an die Freunde seiner Frau. Der Titel der Nachricht: «Vous n’aurez pas ma haine» – meinen Hass bekommt ihr nicht. Seine Worte verbreiten sich rasend schnell im Internet. Denn indem Leiris sich weigert, die Terroristen zu hassen, nimmt er ihrer Tat die Wirkung. Leiris wird zum Botschafter der Menschlichkeit als Antwort auf Hass und Terror. In dem Buch beschreibt er seine Gefühle und Gedanken in den ersten Wochen nach dem Anschlag. Es ist kein politisches Manifest, er bietet keine Lösungen an. Eigentlich handelt das Buch vor allem von der Liebe: von der Liebe zu seiner Frau Hélène und zu seinem Sohn Melvil. Antoine Leiris macht damit die Liebe zur Antwort auf den Terrorismus. Das ist manchmal kaum auszuhalten, aber berührend – und ermutigend.

Antoine Leiris: Meinen Hass bekommt ihr nicht. Freitag Abend habt ihr das Leben eines ausserordentlichen Wesens geraubt, das der Liebe meines Lebens, der Mutter meines Sohnes, aber meinen Hass bekommt ihr nicht. Blanvalet, 144 Seiten, ISBN 978-3-7645-0602-5

Gebrauchsanweisung für die Schweiz

Buchtipp zum Wochenkommentar von 29.7.2016: An Stelle einer 1. August-Ansprache: Heimat – eine Utopie

buch1630SchweizManchmal (es muss nicht einmal Nationalfeiertag sein) kommt einem das eigene Land fremd vor und man wäre froh, man könnte zu einer Gebrauchsanweisung greifen. Genau das haben Thomas Küng und Peter Schneider in der gleichnamigen Reihe aus dem Piper-Verlag vorgelegt: Eine Gebrauchsanweisung für die Schweiz. Wenn es so einfach wäre. Als teilnehmende Beobachter beschreiben die beiden die Schweiz, oder besser: ihre Schweiz. Wenn wir solche Gebrauchsanweisungen für Sylt oder Sizilien, für Wien oder Paris lesen, schmunzeln wir entspannt und nutzen eifrig. Die Gebrauchsanweisung für das eigene Land lässt sich so entspannt nicht lesen, da geht schon ab und an die Augenbraue hoch (das Schmunzeln kommt aber nicht zu kurz). Denn was für Fremde als Gebrauchsanweisung gedacht ist, ist uns Einheimischen natürlich ein Spiegel. Und da sieht man bekanntlich nicht nur Schönheit, sondern auch Pickel und graue Haare. Seis drum. Das Büchlein beinhaltet so viel Wissenswertes und das auf so bekömmliche Weise, dass es unbedingt zur Grundausstattung helvetischer Heimbibliotheken gehören sollte. Erst recht vor dem Nationalfeiertag.

Thomas Küng: Gebrauchsanweisung für die Schweiz. Piper Verlag, 204 Seiten, ISBN 978-3-492-27566-8

Charles Chaplin: Die Geschichte meines Lebens

Buchtipp zum Wochenkommentar vom 5.8.2016: Wie die (digitale) Maschine uns verschluckt

buch1631chaplin Nirgends kommt man Charlie Chaplin so nahe wie in seiner Villa Manoir de Ban – ausser in seiner Autobiographie Die Geschichte meines Lebens. Er beschreibt darin nicht nur seinen Aufstieg vom kleinen Jungen im Armenhaus zum Weltstar, sondern denkt vor allem darüber nach: über das Vaudeville-Theater, in dem er die ersten Schritte auf der Bühne machte, die Flickers, wie die ersten Kurzfilme genannt wurden, seinen Einstieg ins Filmgeschäft, seinen Aufstieg, seine Freunde und seine Partnerinnen. Dabei macht sich Charlie nicht nur Gedanken über Film und Kunst, sondern auch über Politik und Wirtschaft. Das ist gerade in Bezug auf Modern Times sehr spannend: Für Chaplin war die Arbeitslosigkeit das grösste Problem der Wirtschaft. Als die Arbeitslosenziffer 1928 in den USA vierzehn Millionen erreichte, verkaufte Chaplin alle Wertpapiere und hielt sein Vermögen flüssig und verlor deshalb mit dem Börsenkrach von 1929 kein Geld. Chaplins Autobiographie liest sich heute noch flüssig und ist wunderbar geeignet als Appetitanreger für seine Filme.

Charles Chaplin: Die Geschichte meines Lebens. Fischer Taschenbuch, 528 Seiten, ISBN 978-3-596-14061-9

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims

Buchtipp zum Wochenkommentar vom 12.8.2016: Warum die Arbeiterschaft rechts wählt, statt links

buch1632Didier Eribon, 1953 geboren, wächst in einfachen Verhältnissen in einer Arbeiterfamilie in Reims auf. Als er mit 20 ein Stipendium erhält, zieht er nach Paris. Er flüchtet vor seiner Herkunft und versucht, alles, was an seine soziale Schicht erinnert, abzustreifen. Das gelingt ihm tatsächlich: Er lebt heute als Autor und Philosoph in Paris. Als sein Vater starb, kehrte er zum ersten Mal nach vielen Jahren zurück nach Reims – und stellte überrascht fest, dass seine Mutter und seine Brüder, die doch früher immer kommunistisch gewählt hatten, plötzlich dem Front National ihre Stimme gaben. In seinem packenden Buch «Rückkehr nach Reims» verarbeitet er diese Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit – und der sozialen Schicht, der er einst angehörte. Erst in der Rückblende merkt er, wie sehr er unter der Homophobie seiner Familie und seiner Schulkameraden gelitten hat. Eribon vermischt kunstvoll Autobiographie und schonungslose, soziologische Diskussion. Das macht das Buch nicht nur sehr lesenswert, sondern auch sehr gut lesbar. Wer interessante Sätze und Gedanken in Büchern mit dem Bleistift anzustreichen pflegt, kommt bei diesem Buch kaum dazu, den Stift abzulegen. Eigentlich muss man den ganzen Text anstreichen. Kein Zweifel: Dieses Buch gehört im Jahr 2016 bisher zu den wichtigsten. Kurz: Lesen!

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Suhrkamp, 240 Seiten, ISBN: 978-3-518-07252-3

Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit

Buchtipp zum Wochenkommentar vom 19.8.2016: Die Burka als Ausdruck der persönlichen Freiheit

buch1633Einem breiten Publikum ist Peter Bieri unter seinem Pseudonym Pascal Mercier bekannt: Unter diesem Namen hat er zum Beispiel den Roman Nachtzug nach Lissabon veröffentlicht. Im wirklichen Leben war Bieri Philosophieprofessor für Analytische Philosophie an der Freien Universität Berlin. Als solcher hat er Das Handwerk der Freiheit geschrieben, ein wunderbares Buch über die Freiheit. Darin fragt er sich, was es bedeutet, frei zu sein: Gibt es eine absolute Freiheit des Willens? Oder ist der Wille blosse Illusion und eigentlich alles durch Reflexe und Hormone determiniert? Obwohl Bieri auf hohem Niveau philosophiert, ist das Buch gut lesbar, weil es auf akademischen Jargon und Zitatenhuberei verzichtet. Bieri entwickelt seine Gedanken aus erzählten Szenen und Bildern und führt den Leser an der Hand durch seine Gedankenwelt. Er zeichnet dabei das Bild einer bedingten Freiheit: bedingt ist die Freiheit durch unser Denken und Urteilen. Bieri versteht es, seine Gedanken in eine elegante Sprache zu kleiden, so dass man sich beim Lesen nie durch Sperrigkeit des Ausdrucks am Denken gehindert sieht. Prädikat: äusserst anregend.

Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens. Fischer Taschenbuch, 448 Seiten, ISBN 978-3-596-15647-4

Politik und Religion

Buchtipp zum Wochenkommentar vom 26.8.2016: Wie christlich hat die Schweiz zu sein?

buch1634CVP-Präsident Gerhard Pfister fordert eine Begrenzung der Religionsfreiheit. Im Namen dieser Religionsfreiheit zwingen französische Polizisten Musliminnen an einem Strand in Cannes dazu, den Burkini auszuziehen. Was ist da los? Dieser Band versammelt eine Reihe hervorragender Aufsätze über das wiederaufflammende Spannungsfeld von Politik und Religion. Eine allgemeine Untersuchung zur Religionsfreiheit begleitet spezifische Aufsätze über das Verhältnis von Politik und Religion in den USA, in Russland, islamischen Ländern und in Israel. Höhepunkt des Bandes ist der titelgebende Aufsatz Politik und Religion von Jürgen Habermas. Die Aufsätze bringen Licht in das unheimliche Beziehungsgeflecht von Macht und Religion, wie es auch in Deutschland und in der Schweiz in der Vergangenheit immer wieder gepflegt wurde. Die analytische Schärfe der Texte schafft, zuweilen fast schmerzhaft, Ordnung im Kuddelmuddel von Glaube, Geschichte, Tradition und Mehrheitsgeschmack, wie er auch im Westen herrschte – und zuweilen noch herrscht. Wer sich heute zum Thema Religion und Politik äussern will, muss dieses Buch gelesen haben.

Friedrich Wilhelm Graf, Heinrich Meier (Hrsg.): Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart. Beck’sche Reihe 6105, 324 Seiten, ISBN 978-3-406-65297-4