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Zwischen Gut und Böse

Publiziert am 13. April 2023 von Matthias Zehnder

Von Marina Owsjannikowa haben Sie bestimmt schon gehört, auch wenn Sie ihren Namen nicht kennen: Das ist jene Fernsehjournalistin, die während der Nachrichten-Sendung am 14. März 2022 live auf dem Sender mit einem Plakat gegen den Krieg und die Propaganda protestierte. «No War» und «hier werden Sie belogen», stand auf dem Plakat. Die ganze Aktion dauerte nur gerade sechs Sekunden. Aber sie fand im ersten Kanal des russischen Fernsehens statt, während der Nachrichtensendung «Wremja». Etwas später, als sie bereits in Polizeigewahrsam ist, postet sie in den sozialen Medien eine Videobotschaft. Darin sagt sie: «Leider habe ich in den letzten Jahren bei Channel One gearbeitet und Kreml-Propaganda gemacht, wofür ich mich jetzt sehr schäme.» Sie wird als ausländische Agentin denunziert, soll im Auftrag des FBI gehandelt haben. Eine Woche vor Beginn des Prozesses gelingt ihr spektakulär die Flucht aus Russland. In diesem Buch erzählt sie, wie es dazu kam, dass sie Beruf, Familie und Existenz für einen kurzen Protestmoment im Fernsehen aufs Spiel setzte. Warum sie sich angesichts des brutalen Krieges in der Ukraine gegen den Machtapparat Putins stellte. Und vor allem: Wie die russischen Medien systematisch das eigene Volk belügen.

Die Vorgeschichte zum Protest setzt am 16. März 2022 ein. Das ist der Tag, für den die amerikanischen Geheimdienste den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine vorausgesagt haben. Die Sprecherin des russischen Aussenministeriums spottet, sie bitte bitte die westlichen «Desinformationsmedien», ihr die Invasionspläne für das kommende Jahr bekannt zu geben: «Ich würde gerne meinen Urlaub planen.» Später, als die russischen Truppen die Ukraine überfallen haben, sagt ein Nachrichtensprecher im russischen Fernsehen, der ukrainische Präsident Selenskyj sei drogenabhängig: «Sie können zum

Beispiel sein Verhalten, seine Worte, seine Mimik und seine Gesten analysieren. Er zieht Grimassen, richtet sein Haar und wischt sich ständig die Nase. Dieses Verhalten ist bei Kokainabhängigen üblich.» Marina notiert dazu: «Ich fühle mich wie ein kleines Sandkorn in einem Meer von grossen Lügen.»

Marina Owsjannikowa arbeitet in der Auslandsredaktion des Nachrichtensenders. Sie sieht den ganzen Tag die Videos und Bilder der internationalen Nachrichtenagenturen aus der Ukraine. Bilder von flüchtenden Frauen und Kindern, von russischen Soldaten, die Städte und Dörfer in der Ukraine angreifen. Die Diskrepanz zwischen dem, was ihre Bildschirme zeigen, und dem, was ihr Fernsehsender auf den Bildschirmen der russischen Zuschauerinnen und Zuschauern zeigt, wird immer grösser.

Schon vor Kriegsausbruch ist der Nachrichtensender zum erweiterten Arm der Kreml-Propaganda geworden. Marina beschreibt, wie sie immer häufiger Videos aus dem Kreml erreicht haben, die der Sender zeigen musste. «Als der Präsident lange Zeit nicht in die Öffentlichkeit gehen will, werden uns ‹Konserven› geschickt – das sind vorbereitete Treffen zwischen Putin und Beamten. Wir bringen sie nach und nach auf Sendung, damit sich die Menschen keine Sorgen über die lange Abwesenheit des Präsidenten machen müssen.»

Alle Nachrichten werden mehrfach geprüft (also zensuriert). Selbst für den Sendungsablauf gibt es Regeln. So dürfen auf Berichte über Putin keine schlechten Nachrichten folgen. «Neben dem Namen des Präsidenten sollen keine negativen Informationen stehen», schreibt Marina. Jahr für Jahr formt das Staatsfernsehen Putin zum Retter des russischen Landes. In der internationalen Nachrichtenredaktion, in der sie arbeitet, gibt es ein unausgesprochenes Verbot für gute Nachrichten aus den USA und Westeuropa. «In den Köpfen der einfachen russischen Bevölkerung muss das Bild entstehen, dass alle Amerikaner LGBT-Anhänger sind, die Schwarze töten und adoptierte Kinder aus Russland missbrauchen.» Selbst harmlose Berichte über eine Veranstaltung wie die jährliche Oscar-Verleihung sind verboten.

Wichtige Nachrichten im staatlichen Fernsehen totzuschweigen, ist zur gängigem Praxis geworden. Dazu gehören auch Nachrichten über Alexej Nawalny. Als er aus Deutschland zurückkehrt nach Russland und am Flughafen verhaftet wird, berichtet das russische Fernsehen nicht darüber.

Ihre Kolleginnen und Kollegen machen das Spiel mit. Die meisten jedenfalls. «Im Allgemeinen lassen sich meine Kollegen im Fernsehen in zwei Gruppen einteilen – es sind einerseits die Ideologen, die Putin wirklich unterstützen, von ihnen gibt es aber nur sehr wenige. Die meisten anderen sind einfach nur verlogen und korrupt. Morgens unterzeichnen sie anonyme Petitionen zur Verteidigung der Demokratie, und abends verbreiten sie Geschichten über den verkommenen Westen», schreibt Marina.

Das Resultat ist verheerend: Marina schreibt, die Russinnen und Russen seien «von der Propaganda regelrecht zombifiziert. Sie sind wie kranke Menschen, die nicht geheilt werden können, solange auf den Bildschirmen der Strom von Lügen nicht abreisst.» Später, nach ihrer Flucht, besucht sie in Berlin das Mauer-Denkmal und das «Wall Museum». Sie versucht zu verstehen, wie Russland in den siebenundsiebzig Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vom Befreier zu einem Aggressor geworden ist. «Meine beiden Grossväter, ein Ukrainer und ein Russe, kämpften gemeinsam während des Zweiten Weltkriegs an den Fronten gegen den Faschismus. Hätten sie bis heute gelebt und erfahren, dass Russland die Ukraine angegriffen hat, hätten sie uns, ihre Enkel, verflucht», schreibt Marina.

In ihrem Buch beschreibt Marina Owsjannikowa nicht nur die persönliche Geschichte ihres Protests und der Folgen, die Flucht aus Russland, die Rückkehr nach Moskau zu den Kindern, die erneute Flucht, die Arbeiten für westliche Medien, die Versuche, im Exil als Journalistin zu arbeiten. Sie beschreibt detailliert, wie der russische Medien-Propaganda-Komplex funktioniert und welche Wirkung das auf die Menschen in Russland hat. Das alles wäre spannend zu lesen – wenn es nicht so traurig wäre. Es bleibt ein wichtiges Buch, auch und gerade für Journalisten.

Marina Owsjannikowa: Zwischen Gut und Böse. Wie ich mich endlich der Kreml-Propaganda entgegenstellte. Langen/Müller, 208 Seiten, 28.90 Franken; ISBN 978-3-7844-3672-2

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783784436722

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