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Zwei Reifen, eine Welt
Die meisten Erfindungen des 19. Jahrhunderts sind in Vergessenheit geraten oder bis zur Unkenntlichkeit modernisiert worden, darunter die Dampfmaschine, die Schreibmaschine, der Telegraf oder die Fotografie. Nur eine Erfindung ist bis heute im Wesentlichen unverändert geblieben: das Velo. «Ein Fahrzeug von unglaublicher Einfachheit, Eleganz und Genialität», schwärmt Jody Rosen in seinem Buch über die Geschichte des Fahrrads. In der Tat ist es erstaunlich, wie wenig sich das Fahrrad seit seiner Erfindung verändert hat: zwei Räder, ein rautenförmiger Rahmen, ein Kettenantrieb für das Hinterrad, zwei Pedale, ein Lenker, ein Sattel – und auf dem Sattel ein Mensch, der Passagier und Motor zugleich ist. Jody Rosen, Velokurier und Journalist, erzählt in diesem Buch ebenso unterhaltsam wie detailreich die Geschichte dieses genialen Fortbewegungsmittels. Das Buch ist weder ein historisches Nachschlagewerk noch eine wissenschaftliche Abhandlung. Es ist eine Sammlung von Wissen, Anekdoten, eine Mischung aus Geschichte und Geschichten, die der genialen Erfindung über die Jahrzehnte nachspürt und zeigt, welche Auswirkungen es hatte, dass der Mensch plötzlich aus eigener Kraft den Raum überwinden konnte.
Das Buch beschreibt die Entwicklung des Fahrrads von den ersten Modellen bis zur klassischen Form des heutigen Fahrrads und es zeigt, wer das Velo alles genutzt hat, von den Vietcong bis zur Frauenbewegung und den Gebrüdern Wright, die Fahrradmechaniker waren. Das ist vielleicht kein Zufall, denn das Fahrradfahren verwirklichte einen Traum der Menschheit, der so alt war wie der Traum vom Fliegen: Das Fahrrad erlaubte es den Menschen, sich aus eigener Kraft, also auch unabhängig von Reit- und Zugtieren, schnell über Land zu bewegen. Die Dampflokomotive war die grosse Landfresserin des 19. Jahrhunderts – das Fahrrad leistete dasselbe im Kleinen: Es tilgte den Raum, verkürzte Entfernungen und machte die persönliche Welt etwas erreichbarer. Mit dem grossen Unterschied zur Bahn, dass Fahrradfahrer ihre eigene Lokomotive sind: «Man reist selbst», schrieb 1878 ein Radbegeisterter, «und wird nicht gereist.»
Heute ist das Velo selbstverständlich. Wir sind uns deshalb gar nicht mehr bewusst, welche Veränderung, ja revolutionäre Kraft seine Verfügbarkeit hatte und welche weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen das Fahrrad provozierte. Jody Rosen schreibt, das Fahrrad sei als «ein Gleichmacher gepriesen, das Fahrradfahren als Reinigung des Körpers, als Befreiung von Geist und Verstand». Vor allem trug es zur Befreiung der Frauen bei – und sei es nur, dass sie auf dem Velo ihren Männern davonfahren konnten. Susan B. Anthony schrieb deshalb 1896: «Ich glaube, das Fahrradfahren hat mehr zur Emanzipation der Frauen beigetragen als alles andere».
Seit den 1970er-Jahren machen sich Aktivisten für das Fahrrad stark. Das Velo wurde die Alternative zur Autokultur. Es stand ebenso für fortschrittliche Werte, für hehre Ideale wie Gleichheit, für Liebe und Frieden. Ja, man hoffte sich vom Fahrrad, dass es zum gemeinsamen «Nenner zwischen Ost und West» werde und «uns alle zu Brüdern und Schwestern» mache.
Im Zeitalter der Klimakrise ist das Velo geradezu zum Heilsbringer avanciert. Die Rede ist von einer «wahrhaft wohltätigen Maschine», von dem man sich nichts Geringeres als die Rettung der Welt erhofft. «Im 19. Jahrhundert sah man das Fahrrad als technisches Wunder, heute als moralische Pflicht. Einst leuchtete es als Stern am Himmel, heute als Fackel der Vernunft», schreibt Jody Rosen.
In seinem Buch erzählt er von Fahrradliebe und Fahrradverachtung. Er untersucht die starke Zuneigung und Abneigung, die Fahrräder hervorrufen und wie diese Haltungen in Geschichte und Kultur sowie in den Köpfen und im Leben der Leute ein Echo finden. Er erzählt von den Debatten und den Kämpfen, die in der Vergangenheit im Namen des Fahrrads geführt wurden – und zum Teil noch immer geführt werden. Spannend ist das Kapitel über die Bedeutung des Fahrrads für die Frauenbewegung: Um die Jahrhundertwende nutzten feministische Reformerinnen das Fahrrad als Protestmittel und als Symbol des Wertewandels. Das Radfahren bot den Frauen neue Unabhängigkeit und räumte gleichzeitig mit dem Mythos ihrer körperlichen Schwäche auf. Und ganz nebenbei half das Velo den Frauen, sich von den Zwängen der viktorianischen Mode zu befreien, den starren Korsagen und den Reifröcken aus Fischbein, mit denen man unmöglich ein Fahrrad besteigen konnte. Die Radfahrerinnen besorgten sich – eine Revolution – Bloomerhosen, die zusammen mit dem Fahrrad fortan selbst zum Symbol emanzipierter Weiblichkeit wurden. Bis heute spielt das Fahrrad offenbar beim Kampf um Frauenrechte eine wichtige Rolle. Autoritäre Regime in Asien und im Nahen Osten erlassen immer wieder Fahrradfahrverbote für Frauen.
Aber natürlich macht auch das Fahrrad die Menschen nicht einfach gut. Es wurde auch von Infanteristen, Gendarmen, Steuereintreibern und anderen Kolonialbeamten in Britisch-Malaya, Deutsch-Togo und Französisch-Nordafrika genutzt. Schwarze Diener chauffierten auf den Westindischen Inseln mit Fahrradrikschas Plantagenbesitzer. Europäische Missionare fuhren per Rad in Malawi, Indien und auf den Philippinen zu ihren Schäfchen. Es gab Armeen, die über Fahrradbataillone verfügten – nicht zu vergessen die Schweizer Radsoldaten.
Jody Rosen widmet sich in seinem Buch auch diesen widersprüchlichen Aspekten des Fahrrads. Es geht ihm um die Geschichten rund um das Velo. Spannend ist dabei, dass er sich nicht nur auf Europa und die USA beschränkt. Denn die «Mehrheit der Fahrräder und Radfahrer rollt nicht durch Kopenhagen oder eine andere europäische oder nordamerikanische Grossstadt. Statistisch gesehen ist im 21. Jahrhundert ein Radfahrer viel wahrscheinlicher ein Wanderarbeiter in einer asiatischen, afrikanischen oder lateinamerikanischen Metropole als ein weisser europäischer Vertreter des ‹Cycle Chic›», schreibt Rosen. Anders gesagt: Für Hunderte Millionen Menschen ist das Fahrrad nicht Teil eines Lebensstils, sondern schlicht das einzige verfügbare und erschwingliche Verkehrsmittel. Ein spannendes Buch, das einem die Augen öffnet – und mit ganzen Bergen von Material für den nächsten Smalltalk versorgt.
Jody Rosen: Zwei Reifen, eine Welt. Geschichte und Geheimnis des Fahrrads. Hoffmann und Campe, 464 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-455-01574-4
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783455015744
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