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Zukunft denken
Was ist Zukunft? Der Historiker David Christian hat darauf eine verblüffend einfache Antwort: Alle Zeit, die es gibt, mit Ausnahme der Vergangenheit und der Gegenwart. Christian betreibt das von Bill Gates finanzierte Big History Project. Er sagt, es sei unabdingbar, dass die Menschen damit beginnen, über ihre Zukunft nachzudenken. Denn die Geschichte des Planeten Erde steht vor einem Wendepunkt: Die Menschen, sagt Christian, halten die Zukunft der Erde und ihre «vulnerable Lebensfracht» in ihren unsicheren Händen: «Was wir in den nächsten fünfzig Jahren tun, wird über die Zukunft der Biosphäre in den nächsten Tausenden oder vielleicht Millionen Jahren entscheiden.» In seinem Buch beschäftigt er sich deshalb damit, wie Philosophen, Wissenschaftler und Theologen über die Zukunft gedacht haben. Er zeigt, wie sich andere Lebewesen – von Bakterien über Biber bis zu Baobabs – mit dem gleichen tiefen Geheimnis auseinandersetzen, indem sie eine ungeheuer komplexe biochemische und neurologische Maschinerie benutzen. Und er beschäftigt sich mit der Frage, was unsere eigene Spezies von anderen unterscheidet, wenn sie «kollektiv und bewusst über die Zukunft nachdenkt und versucht, auf sie einzuwirken». Christian denkt dabei über einige der heute denkbaren Zukünfte in den nächsten Jahrzehnten, Jahrtausenden und Jahrmilliarden nach und stellt zum Schluss einige Vermutungen über das Ende der Zeit an.
Über die Zukunft nachzudenken, ist ein schwieriges Unterfangen. Denn die einzigen Hinweise auf die Zukunft liegen in der Vergangenheit. «Daher fühlt sich Leben manchmal an, als lenke man einen Rennwagen, während man in den Rückspiegel blickt», schreibt David Christian. Kein Wunder, bauen wir hin und wieder Unfälle. Weil sich die Zukunft nur aus der Vergangenheit erschliesst, sei es paradox, dass Historiker, die ihre Zeit damit verbringen, die Vergangenheit zu studieren, so selten an die Zukunft denken. David Christian will deshalb «für die Verknüpfung des Vergangenheitsdenkens (der «Geschichte») mit dem Zukunftsdenken» werben, damit die Menschen die Vergangenheit besser nutzen, um mögliche Zukünfte auszuleuchten.
David Christian gliedert sein Buch rund um vier Grundfragen in vier Teile. Im ersten Teil lautet die Frage: «Was ist Zukunft?» Die Antworten geben Philosophen, Naturwissenschaftler und Theologen. Christian zeigt, mit welchen praktischen Herausforderungen sich alle Lebewesen konfrontiert sehen, wenn sie versuchen, sich mit der Zukunft zu beschäftigen. Seit der Antike haben die Menschen zwei sehr unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft: Heraklit war sicher, dass die Welt sich im ewigen Wandel befindet. Daraus folgt, dass sich die Zukunft von der Vergangenheit unterscheidet, ja sich beeinflussen lässt. Parmenides dagegen dachte, Veränderung sei eine Illusion, mithin seien Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft weitgehend gleich.
Der zweite Teil dreht sich um die Frage: «Wie bewältigen Lebewesen die Zukunft?» Im Zentrum stehen ausgefeilte biochemische und neurologische Mechanismen, die Lebewesen zu Hilfe nehmen, um sich ungewissen Zukünften zu stellen. Natürlich geschieht das nur bei den intelligenteren Lebewesen bewusst. Bei allen anderen Lebewesen arbeiten diese Mechanismen unterhalb der Bewusstseinsebene, quasi unter Deck.
Der dritte Teil beschäftigt sich mit dem bewussten Zukunftsdenken der Menschen. Die zentrale Frage lautet: «Wie versuchen Menschen die Zukunft in den Blick zu bekommen, zu verstehen und sich auf sie vorzubereiten?» Das Zukunftsdenken hat sich in der Vergangenheit radikal verändert, Christian beschreibt es deshalb in drei unterschiedlichen Abschnitten der Menschheitsgeschichte: in der Gründerzeit bis vor rund 10 000 Jahren, im Agrarzeitalter bis 200 Jahre vor der Gegenwart und schliesslich in der Neuzeit. Interessant ist dabei vor allem der Wandel in den letzten 100 Jahren. Die Kriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sorgten dafür, dass das offizielle Zukunftsdenken weitgehend militärisch geprägt war, weil sich die Staaten auf künftige Kriege vorbereiteten. Kernwaffen und die Raketen, die sie trugen, waren dann Produkte dieses militarisierten Zukunftsdenkens. «Mitte der 1960er-Jahre löste die Entwicklung der Computer eine neue Welle des Optimismus aus, was die Möglichkeiten einer exakten wissenschaftlichen Zukunftsmodellierung betraf», schreibt Christian. 1964 glaubten Mitarbeiter der amerikanischen RAND Corporation, es sollte schon bald möglich sein, sozioökonomische und politische Probleme ebenso zuverlässig zu bewältigen wie die Probleme in der Physik und Chemie. In den 80er-Jahren verebbte dieser Optimismus. Die Naturwissenschaften wurden probabilistischer und weniger deterministisch. Der Zusammenbruch der Sowjetunion offenbarte die Grenzen der wirtschaftlichen und technologischen Planung für ganze Gesellschaften. Der Zukunftsforschung haftete zudem der Makel einer zu engen Verbindung mit militärischen und politischen Zielsetzungen an. Neue Formen der Zukunftsforschung legten weniger Nachdruck auf Vorhersagen als auf den Versuch, gesellschaftliche Hoffnungen oder Ängste aufzugreifen, die sich auf die Zukunft richteten.
Im vierten Teil geht es um die Gretchenfrage: «Welche Art von Zukünften können wir uns (glaubhaft) für die Menschheit, den Planeten Erde und das Universum als Ganzes vorstellen?» Wie sollen wir uns ausmalen, was in den nächsten hundert oder den nächsten Millionen Jahren geschehen könnte – und können wir uns glaubhaft das Ende der Zeit vorstellen? Christian schreibt, Zukunftsforschung beschäftige sich nicht mit «der Zukunft», sondern mit «Vorstellungen von der Zukunft». Oder etwas anders formuliert: Welche Zukünfte sind machbar und welche nicht?
Für David Christian sind deshalb drei Schritte nötig. Der erste Schritt besteht aus der Beantwortung der Frage, welche Zukünfte wir uns wünschen. Dann können wir uns fragen, welche Zukünfte am wahrscheinlichsten sind. In dem Hurrikan der Veränderung, der heute tobe, sei das, «als wollte man ein Schiff bei Sturm in den Hafen steuern, während auf der Kommandobrücke wütender Streit herrscht». Also nicht ganz einfach. Der dritte Schritt lautet: Was müssen wir tun? Denn es sieht nicht gerade rosig aus auf unserem Planeten. «Wir müssen handeln, wenn wir den Kollaps vermeiden und uns in Richtung optimistischerer Szenarien entwickeln wollen», schreibt Christian David. Einfach gesagt: Die Menschen müssen «zu kompetenten planetaren Managern» werden. Für Christian bedeutet das, dass wir ein «Wirtschaftssysteme entwickeln, in denen die Preise die tatsächlichen Umweltkosten von Waren und Dienstleistungen besser widerspiegeln und in denen die Treibhausgasemissionen drastisch gekürzt werden».
Spannend am Buch von David Christian ist, dass er nicht nur in die kurzfristige Zukunft schaut, sondern sich auch fragt, was längerfristig passiert. Es geht ihm dabei konkret um die nächsten 1000 Jahre und den «Rest der Zeit». Also um eine Zukunft, in der niemand von uns heute mehr leben wird. «Wir können nicht die gleiche tief empfundene Anteilnahme für unsere fernen Nachkommen aufbringen wie für die Menschen, die die nächsten Hundert Jahre erleben werden.»
David Christian sagt, es brauche mit Sicherheit folgende Dinge: «(1) Koordination und Planung auf planetarer Ebene; (2) eine Menge erstklassiger wissenschaftlicher und technologischer Erkenntnisse, um vertrackt komplexe Probleme zu lösen; (3) neue Unterrichts- und Ausbildungsmethoden, damit möglichst viele Menschen begreifen, vor welchen kollektiven Herausforderungen sie stehen; und (4) ethische Systeme, die die Menschen zu der Einsicht bringen, welchen Wert eine gesunde Biosphäre für das Wohlergehen ihrer eigenen Nachkommen und für Milliarden anderer Arten hat.» Zudem brauche der Mensch Methoden zur Erzeugung grosser Mengen nachhaltiger Energie, Nanotechnologien, künstliche Intelligenz und Robotik und biologische Technologien, «die menschliche Körper so verwandeln werden, dass in einigen Fällen Kombinationen aus Menschen und Maschinen von unbegrenzter Lebensdauer entstehen werden».
Und dann? Dann kommt die ferne Zukunft, die in Jahrmillionen (oder mehr) gemessen wird. «Wir werden keine persönlichen Beziehungen zu diesen fernen Zukünften haben und können sie auch in keiner nennenswerten Weise beeinflussen.» Doch auf eine merkwürdige Art scheine es leichter zu sein, sich die fernsten Zukünfte auszumalen, als eine Vorstellung von den mittleren Zukünften zu gewinnen. Dies unter anderem deshalb, weil der Mensch und seine kaum vorhersehbaren Handlungen keine Bedeutung mehr haben. «Planeten verhalten sich in geregelter Weise, ebenso Galaxien; und wie es scheint, gilt dies auch für die Universen als Ganzes.» Was David Christian dann über die planetarische und galaktische Zukunft schreibt, über die Zukunft von Erde, Sonne und Sonnensystem, ist atemberaubend, weil es sich auf kosmischen Grössenskalen abspielt. In der Grössenordnung von Hunderten Millionen Jahren werden vor allem geologische und astronomische Prozesse die Zukunft der Erde gestalten. Geologen können heute vorhersagen, wie sich die Kontinente und Ozeane in späteren Zeiten neu ordnen werden. Der Atlantik wird breiter, während Pazifik und Mittelmeer schrumpfen. In rund 200 Millionen Jahren werden die Kontinente sich zu einem neuen Superkontinent verbinden. Dabei bleibt es aber nicht. In drei oder vier Milliarden Jahren wird eine heissere Sonne das Wasser der Ozeane verkochen. Strahlung spaltet die Wassermoleküle in Wasserstoff und Sauerstoff auf. Wenn die Oberflächentemperatur der Erde 1000 Grad erreicht, schmelzen die Felsen. In vier Milliarden Jahren wird die Sonne zum Roten Riesen. Diese Phase dauert aber nur einige Millionen Jahre dauern. In rund fünf Milliarden Jahren wird die Sonne sterben. Es wird dies das Ende unseres Sonnensystems sein, aber nicht das Ende des Universums. Das ist nämlich noch sehr jung.
David Christian: Zukunft denken. Die nächsten 100, 1000 und 1 Milliarde Jahre. Aufbau Verlag, 378 Seiten, 37.90 Franken; ISBN 978-3-351-03942-4
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783351039424
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