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Zerrissene Staaten von Amerika

Publiziert am 16. Januar 2024 von Matthias Zehnder

Vergessen Sie alle Schlagzeilen über Trump und Biden, die Vorwahlen und den Zustand der Demokratie in den USA und lesen Sie dieses Buch: Arthur Landwehr, langjähriger Washington-Korrespondent der ARD, erklärt darin wohltuend nüchtern, warum die Vereinigten Staaten genau das nicht mehr sind, sondern ein zutiefst gespaltenes Land. Wichtig ist dabei: Landwehr erklärt. Er ergreift nicht Partei und er urteilt nicht. Das ermöglicht es ihm (und uns), zu verstehen, warum Evangelikale Donald Trump treu bleiben, einem Mann mit einem höchst unmoralischen Lebensstil. Was die Menschen in den grossen Städten an den Küsten und jene in den grossen Landschaften dazwischen trennt. Warum der amerikanische Traum nicht mehr funktioniert und welche politischen Folgen das hat. Er zeigt in seinem Buch, warum in den USA nicht Sachpolitik über die Wahlen entscheiden, sondern Identität und Verlustangst. Die Folge ist ein Stammesdenken in der Politik: Demokraten und Republikaner stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die Frage ist nicht: Was will die Partei erreichen? Sondern: Welche Identität gibt mir die Partei? Ich habe selten in einem Sachbuch so viele Textpassagen markiert und mit Ausrufezeichen versehen. Das Buch ist ein echter Augenöffner: Die Angst vor Identitätsverlust und die Existenzängste des Mittelstands gibt es auch bei uns. Weil wir nicht in einem bipolaren Zweiparteiensystem leben, haben die Ängste keine so gravierenden Auswirkungen wie in den USA. Noch nicht, jedenfalls.

Auch bei uns, in Deutschland und in der Schweiz, sind viele Menschen enttäuscht oder wütend. Es prägt sie die Angst vor dem sozialen und wirtschaftlichen Abstieg. Sie haben das Gefühl, die Kontrolle über ihr leben weitgehend verloren zu haben, nicht mehr wertgeschätzt zu werden und nicht mehr eingebunden zu sein. Sie haben das Gefühl, in ihrer Identität bedroht zu sein. Das gilt nicht nur für den Arbeiter im mittleren Westen der USA, für den Farmer in Texas und den Handwerker in Ohio, sondern auch für die Bauern auf dem Land in Deutschland und der Schweiz, die Handwerker in der Agglomeration und die Arbeiter in den Industriegebieten bei uns. In den USA ist es dies die weisse Mehrheitsgesellschaft, die sich in ihrer Identität und ihrer Existenz bedroht fühlt.

Arthur Landwehr zeigt in seinem Buch, wo und warum ein grosser Riss die Gesellschaft in den USA spaltet. Den Kampf der Demokraten und der liberalen Menschen in den grossen Städten für mehr Gerechtigkeit und gleiche Chancen empfinden Republikaner und konservative Amerikaner als unangemessene Gleichmacherei, die den Kern der amerikanischen Werteordnung bedroht. Sie sehen im «Egalitarismus» die Balance der Republik bedroht: Er untergrabe die sozialen, familiären, religiösen und ökonomischen Unterscheidungen, die der politischen Freiheit eine Basis geben. Auf den ersten Blick scheint uns diese Haltung reichlich seltsam: Warum soll Liberalismus und Offenheit für die Welt etwas Schlechtes sein?

Das Spannende am Buch von Arthur Landwehr ist, dass er über die Haltungen nicht urteilt, sondern sie zu verstehen versucht. Die wichtigste Ursache für die Abkehr vom Liberalismus ist laut Landwehr der Verlust von Zukunftsaussichten. Viele Amerikanerinnen und Amerikaner haben die Hoffnung verloren, dass ihre Probleme in naher Zukunft gelöst sein werden. Der amerikanische Traum funktioniert nicht mehr. Dabei geht es nicht einmal um die Chance, durch harte Arbeit reich zu werden. Es geht um die Möglichkeit, durch lebenslange Arbeit das Alter abzusichern und dafür sorgen zu können, dass es den eigenen Kindern besser geht. Beides, die Altersvorsorge und der Lebensstandard der Kinder, lässt sich durch Arbeit nicht mehr sicherstellen.

Das hat auch damit zu tun, dass in den USA die Studiengebühren und die Gesundheitskosten exorbitant hoch sind und dass Firmen kaum zur Altersvorsorge ihrer Angestellten beitragen. «An die Stelle des sprichwörtlichen amerikanischen Optimismus sind bei vielen Existenzsorgen getreten, die den Alltag von Millionen Amerikanern prägen», schreibt Landwehr. Amerika hat nach wie vor die besten Spitäler und die besten Universitäten, bloss hat der Mittelstand längst keinen Zugang mehr zu diesen Angeboten. Sie sind so teuer, dass sie nur noch den ganz Reichen vorbehalten sind. «Die Hauptursache, warum Menschen bankrottgehen, sind die Kosten für medizinische Versorgung, die sie nicht bezahlen können. Egal ob sie versichert sind oder nicht.» Für viele Amerikaner ist das Gesundheitssystem entscheidend: Es ist so teuer geworden, dass immer weniger Menschen zum Arzt gehen können, auch wenn sie es müssen. «Die grösste Sorge um die Gesundheit kommt bei Jobwechsel und Jobverlust auf. Da man über den Arbeitgeber versichert ist, bekommt man in der neuen Firma eine neue Versicherung zu neuen Bedingungen. Verliert man seinen Job ganz, verliert man mit der Kündigung auch die Krankenversicherung und muss sich, gerade wenn Geld wegen der Arbeitslosigkeit fehlt, sehr viel teurer privat versichern», schreibt Landwehr. Trotzdem bleibt der Gedanke der individuellen Verantwortung für das eigene Schicksal eine zentrale Idee und wird deshalb von vielen weiterhin als Teil der amerikanischen Identität betrachtet. «Versuche im linken Flügel der Demokraten, eine grössere Vorsorgepflicht des Staates zu etablieren, scheitern regelmässig und werden leicht als ‹sozialistisch› diffamiert und abgetan.»

Am spannendsten sind die zentralen Kapitel des Buchs, in denen es um die Angst der Weissen geht, die  ‹White Anxiety›, um den Kampf um die eigene Identität und den amerikanischen Tribalismus. Diese Kapitel sind echte Augenöffner und erklären eine ganze Reihe von Entwicklungen, nicht nur in den USA. Zum Beispiel Donald Trumps berühmte Mauer. Sie ist zum Symbol geworden, ein Schutzwall gegen Veränderung, gegen die Auflösung traditioneller Werte. «Auch wenn es in der Sache um die Grenze zu Mexiko geht, bildet die Mauer eine Art psychologischen Schutz des ländlich geprägten Lebens gegen die Übermacht des liberalen Urbanen», schreibt Landwehr. Die Siedler auf dem Weg nach Westen bildeten im Gründungsmythos der Nation den Kern des freien und selbstbestimmten Amerika, in deren Nachfolge sich die konservative weisse Mittelschicht auf dem Land sieht. «Diese Tradition hält sie für bedroht und wählte mit Trump denjenigen, der ihnen die Wagenburg versprach und auch baute.»

Landwehr ist viel im Land herumgereist und hat mit den Menschen gesprochen, die für Trump gestimmt haben und wieder für ihn stimmen wollen. Sie sagten ihm, früher seien die Menschen ins Land gekommen, weil sie so werden und leben wollten wie die Amerikaner. Sie waren gekommen, um ihr altes Leben aufzugeben, ein neues zu beginnen. Sie lernten Englisch, übernahmen die amerikanische Lebensweise, die Feiertage, den Patriotismus, den Sinn für Familie. Manche änderten sogar ihren Namen, um sich besser in ihre neue Heimat zu integrieren. Landwehr zitiert aus einer dieser Begegnungen: «Früher kamen die Menschen hierher und sagten: ‹Wie schön es hier ist, hier will ich leben und werden wie ihr!› Heute kommen sie und sagen: ‹Wie schön es hier ist, hier will ich leben und so bleiben, wie ich bin!›» Das ist dass Kernproblem: Kommunikationstechnologien und Globalisierung machen es möglich, dass die Einwanderer ihre Art und ihre Identität behalten und sich nicht angleichen. Das kennen wir auch in der Schweiz und in Deutschland.

In den USA kommt dazu, dass sich die Menschen in den ländlichen Gebieten von denen in den grossen Städten entlang der Küsten nicht mehr ernst genommen fühlen. «Sie sehen ihre Werte von einer macht-und geldgierigen unheiligen Allianz aus Politik, Wirtschaft und Medien als provinziell lächerlich gemacht, sich selbst als ‹Hillbillys›, als Hinterwäldler, verunglimpft», schreibt Landwehr. Vor allem die Medien vermittelten eine urbane Lebenswelt, die nicht mehr mit dem Leben auf dem Land übereinstimmt. Minderheiten und deren Anliegen nehmen nach Meinung dieser Menschen zu viel Platz ein. Sie wünschen sich, in der eigenen gesellschaftlichen Rolle respektiert und geschützt zu werden. Diese weissen Amerikaner haben Angst, auch weil sich ihre finanzielle Lage verschlechtert, sie kaum vom Aufschwung in den Städten profitieren und weil sie bald in der Minderheit sein könnten.

Es gibt nicht mehr die USA als Vereinigtes Land mit einer amerikanischen Literatur und Sprache, mit amerikanischen Helden und amerikanischen Feiertage auf der Basis der gleichen jüdisch-christlichen Werte. Heute zerfällt die Gesellschaft in zahlreiche Einzelgruppen, die jede für sich ihre eigenen Rechte, ihre eigene Kultur, ihre eigene Sprache pflegen möchte und darf. «Das aber gefährdet die Rolle der Weissen als Massstab für das, was ‹amerikanisch› ist – und steigert die Angst vor dem Fremden», schreibt Landwehr.

Da kommt das ins Spiel, was Experten den «Amerikanischen Tribalismus» nennen, das Stammesdenken. Die Anhänger der beiden Parteien, der Demokraten und der Republikaner, unterscheiden sich nicht nur in ihren Antworten auf Sachfragen. Sie vertreten ganz grundsätzlich unterschiedliche Ziele und Werte für das Land und die Nation. Wenn man früher Menschen nach ihrer Identität fragte, sind vor allem Religion und Zugehörigkeit zu einer Ethnie genannt worden. Heute ist die Nähe zu einer politischen Richtung oder Partei eines der wichtigsten Identitätsmerkmale. Dabei definierten sich die Befragten weniger darüber, was sie sind, sondern darüber, was sie nicht sind.

Die beiden Parteien stehen je für ein ganzes Bündel von Haltungen, die sich jeweils gegenseitig ausschliesssen. Es geht dabei um Abtreibung, Grenzen, Einwanderung, die Familienform, die Arbeit und um Religion. Es geht nicht mehr darum, ob man rechts oder links ist, sondern ob man «richtig oder falsch liegt, ob man auf der moralisch richtigen Seite steht, ob man wirklich Patriot ist, ob man Amerika schützen oder zerstören will». Landwehr schreibt: «Über mehr Geld für Infrastruktur, neue Strassen oder selbst Krankenkassen kann man politisch diskutieren, über Abtreibung, Sexualität, was Freiheit bedeutet, Geschichtsschreibung in Schulbüchern, Religionsfreiheit oder soziale Gleichberechtigung nicht. Vor allem die Bildungspolitik ist in vielen Teilen des Landes in den Mittelpunkt des Kulturkampfes gerückt, steht dabei stellvertretend für anderes, was Amerikaner im Vorfeld der Wahlen zwingt, die Seite zu wählen.»

Das ist im Vorwahlkampf unter den republikanischen Kandidatinnen und Kandidaten bereits zu sehen: Der Wahlkampf dreht sich nicht um Sachfragen, sondern um «‹Critical Race Theory›, Transgender, gleichgeschlechtliche Ehe, Abtreibung und Waffenbesitz. Alle Wähler werden gezwungen, sich hier zu positionieren und eine Haltung zu der Frage zu entwickeln, was es heisst, Amerikaner zu sein, und welchem ‹Stamm› man angehört.» Dabei kämpfen die beiden Parteien um das Recht, «als Gruppe die nationale Identität der Vereinigten Staaten definieren zu können und damit den eigenen Status zu sichern.»

Der Schlüssel für das Verständnis der Trumpanhänger ist dabei die Angst. Sie haben spätestens am 6. Januar 2021 die Hoffnung darauf verloren, «dass die Vereinigten Staaten wieder so werden, wie sie einmal waren, ein Land, von dem sie nicht mehr sagen müssen, dass sie es nicht mehr erkennen, weil es von Linken gekapert und übernommen wurde.» Angefeuert wird diese Angst von der Haltung von Minderheiten. Anders als zur zeit von Martin Luther King kämpfen Afroamerikaner nicht mehr um einen Platz an der Seite der Weissen, sondern um einen eigenen Platz in der Gesellschaft. Sie sagen laut Landwehr: «Wir wollen keinen Platz, an dem eure Regeln gelten und eure Ideale, Traditionen und Konventionen von uns übernommen werden müssen. Wir haben unsere eigene Identität, die ihren eigenen Platz neben eurer bekommen muss. Wir wollen unsere Kultur pflegen und feiern, unsere Geschichte und unsere Geschichten erzählen, unsere Vorstellung von Schönheit und Wert hat die gleiche Bedeutung wie eure. Wir wollen nicht geduldet sein, wir wollen unseren Anteil, unseren eigenen Platz. Dafür müsst ihr euch ändern und Platz machen.» Ziel ist also nicht mehr eine «farbenblinde» Gesellschaft, sondern eine Gesellschaft, die allen Gruppen Zugang gibt: «Die neue Forderung heisst, Zugang zu allen wichtigen Funktionen, Aufgaben und Ressourcen in der je eigenen Identität zu bekommen. Eine gemeinsame Identität als ‹Amerikaner› spielt damit keine Rolle mehr, sondern in den Mittelpunkt rückt die Identität der selbst definierten Gruppe.»

Es sind diese Überlegungen, die das Buch so spannend machen. Und lehrreich, denn Arthur Landwehr ergreift dabei nicht Partei und urteilt nicht moralisch. Er versucht, die Beweggründe beider Seiten zu verstehen und zu erklären, wie es kommt, dass evangelikale Christen einem Mann wie Trump die Treue halten, der doch mit seinem Leben all ihren Werten widerspricht. Dass Arbeiter für den Milliardär stimmen, dass Farmer aus dem mittleren Westen den New Yorker Immobilientycoon als einen der ihren begreifen. Deshalb lohnt sich die Lektüre dieses Buchs.

Arthur Landwehr: Zerrissene Staaten von Amerika. Droemer/Knaur, 288 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-426-27902-1

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783426279021

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