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Xi Jinping – der mächtigste Mann der Welt

Publiziert am 13. Juli 2021 von Matthias Zehnder

Selten hat mich ein Sachbuch so positiv überrascht. Erwartet habe ich eine Politikerbiografie, die pendelt zwischen Huldigung und Zeigefingerrhethorik. Gelesen habe ich ein überaus spannendes Buch über die jüngere Geschichte von China, verwoben mit der Biografie von Xi Jinping und gespickt mit vielen Zitaten aus seinen Reden. Das Buch setzt ein mit einem Laborbescheid: Am 30. Dezember 2019 erhält die Ärztin Ai Fen, Leiterin der Notaufnahme am Zentralkrankenhaus der chinesischen Stadt Wuhan, eine Laboranalyse aus Peking und zuckt zusammen. Sie hat in den letzten Wochen mehrere Fälle mit unerklärlichen Fiebersymptomen und Lungenbeschwerden behandelt, bei denen normale Behandlungen nicht wirkten. Jetzt sind die Testergebnisse eines Patienten da: «SARS-Coronavirus. Sie umkreist die beiden Wörter mit einem Rotstift, fotografiert sie mit ihrem Handy und schickt das Bild an die anderen Ärzte im Krankenhaus», erzählen Stefan Aust und Adrian Geiges. «Ai Fen ruft ihre Kollegen dazu auf, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, und lässt die Gesundheitsbehörden informieren – tut also das, worin sie ihre Pflicht als Ärztin sieht.» Und wird dafür vom Disziplinarkomitee des Krankenhauses gerügt und bestraft. Sie muss ihre Warnungen einsammeln und alle Ärzte persönlich davor warnen, die Informationen weiterzugeben. Der junge Augenarzt Li Wenliang hat die Warnung bereits über WeChat sieben Kollegen weitergeleitet – alle werden sie deswegen auf eine Polizeiwache zitiert, werden gerügt und müssen eine Unterlassungserklärung unterschreiben. 

Wie kann es sein, dass China einerseits die besten Computerchips und Prozessoren der Welt baut, die modernste Industrie und technische Forschung unterhält, andererseits aber ein gefährliches Virus durch Totschweigen aus der Welt zu schaffen versucht? Die Antwort auf dieses Rätsel ist in gewissem Sinn dieses Buch. Die kurze Antwort: Die Kommunistische Partei Chinas möchte sich vor dem chinesischen Neujahrsfest die Stimmung nicht verderben lassen. Wuhan plant am 20. Januar 2020 ein Festmahl für 40’000 Familien. «Dies wird das Superspreader-Event sein, durch das aus vereinzelten Krankheitsfällen eine Pandemie entsteht. Es wird nicht abgesagt, obwohl an ebendiesem 20. Januar Chinas führender Lungenspezialist Zhong Nanshan erstmals öffentlich erklärt: Das neuartige Virus ist von Mensch zu Mensch übertragbar – und bereits 14 Mitarbeiter des medizinischen Personals von Wuhan haben sich infiziert.» Drei Tage später, in der Nacht auf den 23. Januar, riegelt Chinas Regierung Wuhan von der Aussenwelt ab – eine Stadt mit über acht Millionen Einwohnern. Am chinesischen Neujahrsfest, also am 25. Januar 2020, gibt es dort bereits nichts mehr zu feiern.

Dafür verantwortlich ist letztlich Xi Jinping, der seit 2013 Staatspräsident der Volksrepublik China ist und seit 2012 als Generalsekretär die Kommunistische Partei Chinas führt. Die Partei steht in der Volksrepublik über dem Staat. China hat mit einer Bevölkerung von fast 1,4 Milliarden deutlich mehr Einwohner als die Europäische Union, die USA und Russland zusammen genommen. Das Land ist die Wirtschaftsmacht Nummer eins auf der Welt. In Europa wissen wir aber immer noch wenig über China und seinen Präsidenten. Das beginnt schon beim Namen. Die wenigsten Europäer wissen, dass Xi der Nachname des Präsidenten ist und Jinping der Vorname. «Den chinesischen Präsidenten Jinping zu nennen ist also in etwa so, als würde man von dem amerikanischen Präsidenten Joe oder der deutschen Bundeskanzlerin Angela sprechen», schreiben Aust und Geiges.

Geboren ist Xi Jinping am 15. Juni 1953 in Peking. Vier Jahre vorher hat Mao Zedong hier die Volksrepublik China ausgerufen. Vater Xi Zhongxun kämpfte als Guerillaführer schon im Bürgerkrieg an der Seite Maos. Doch Xi Jinping wächst nicht einfach also roter Prinzling auf. Sein Vater fällt in Ungnade und wird verhaftet, als Xi Jinping neun Jahre alt ist. Weil sein Vater als Konterrevolutionär verurteilt wird, muss sich Xi noch kommunistischer und noch revolutionärer geben als die anderen, wenn er überleben will. Stefan Aust, ehemaliger Chefredakteur des «Spiegel», und der in Basel geborene Sinologie Adrian Geiges erzählen das Leben von Xi Jinping verquickt mit der Geschichte Chinas. Das macht diese Geschichte nachvollziehbar und Xi Jinping nahbar. 

Mao lässt alle Schulen und Universitäten schliessen. Die Jugendlichen verbannt er aus den Städten aufs Land, damit sie dort von Bauern «umerzogen» werden. Auch Xi Jinping muss die Schule abbrechen. «Jetzt beginnt der Heldenmythos des Xi Jinping, der heute in China bis ins Detail erzählt wird.» Xi Jinping will nicht dasselbe Schicksal erleiden wie sein Vater oder seine Halbschwester Xi Heping, die sich aufgrund der Demütigungen während der Kulturrevolution das Leben nimmt. «Er beschloss zu überleben, indem er roter als rot wurde», heisst es später in einem Dossier der amerikanischen Botschaft in Peking über Xi Jinping.

Auf dem Land trifft Xi Jinping tiefe Armut an. Das hat Xi Jinping geprägt. Er spricht deshalb immer wieder vom «chinesischen Traum», natürlich eine Anspielung auf den amerikanischen Traum. Das Ziel ist allgemeiner Wohlstand im Land und China als (wirtschaftliche) Supermacht etablieren. China hat diesen Aufstieg in beeindruckendem Tempo geschafft. Diese Geschichte vom chinesischen Traum hat allerdings einen Schönheitsfehler: «Der wirtschaftliche Wiederaufstieg Chinas beginnt nicht mit dem Sieg der Kommunisten und der Gründung der Volksrepublik 1949, sondern 1978», schreiben Aust und Geiges. Und das heisst: mit der Machtübernahme von Deng Xiaoping. Der Machtwechsel verändert auch das Leben von Xi Jinping: Sein in Ungnade gefallener Vater wird rehabilitiert und wieder in die Parteispitze aufgenommen. Xi Jinping darf nach Peking zurückkehren und an der Tsinghua-Universität studieren. Sein Vater leitet die wirtschaftliche Öffnung des Landes ein und richtet im (damals) ländlichen Gebiet Shenzhen an der Grenze zu Hongkong die erste Sonderwirtschaftszone ein, eine kapitalistische Insel mitten im Sozialismus. Das Projekt ist ein Riesenerfolg. Die Menschen fliehen nur noch selten nach Hongkong, stattdessen kommen die Hongkonger Unternehmer nach Shenzhen und gründen dort und in den anderen Sonderwirtschaftszonen Zhuhai und Shantou Fabriken. Damit beginnt der chinesische Wirtschaftsboom. Der Lebensstandard der Chinesen wächst also, weil sich die Kommunistische Partei aus der Wirtschaft zurückgezogen hat. «Aufwärts geht es, seit sie die geschäftstüchtigen und fleissigen Chinesen einfach machen lässt und dazu noch das Know-how ausländischer Unternehmen ins Land holt», schreiben Aust und Geiges. 

Und Xi Jinping? Chinesen unterscheiden zwischen drei Wegen, Karriere zu machen: dem gelben, dem schwarzen und dem roten Weg. «Bei Gelb wie Gold geht es um Geld, also eine Firma zu gründen oder in einem bestehenden Unternehmen zum Manager aufzusteigen. Schwarz ist die akademische Laufbahn, so bezeichnet, weil viele sie für ein schwarzes Loch ohne Ende halten. Beim roten Weg strebt man an, ein mächtiger Beamter oder Politiker zu werden.» Xi Jinping entscheidet sich für den roten Weg. Allerdings bleibt er dafür nicht, wie alle anderen, in Peking, sondern geht in die Provinz und macht sich da fernab der roten Karrieristen einen Namen. Er arbeitete sich hoch zum Gouverneur der Provinz Zhejiang, wurde Bürgermeister von Shanghai, 2008 Vizepräsident der Volksrepublik China und schliesslich 2012 Generalsekretär der KPCh. Seither gilt er als «Überragender Führer des Landes».

Ebenso interessant wie sein politischer Weg ist aber sein persönliches Leben, das weniger oft Thema in den Nachrichten ist. Xi Jinping ist in zweiter Ehe mit Peng Liyuan verheiratet, einer bekannten Sängerin. Aust und Geiges bezeichnen sie als «Helene Fischer Chinas», sie sei nur wesentlich bekannter. Gemeinsam haben sie eine 1992 geborene Tochter, die an der Harvard-Universität studiert hat.

Ein spannendes und lehrreiches Buch. Versteht man nach der Lektüre China besser? Das wäre zu viel verlangt. Ich weiss jetzt sehr viel mehr über Xi Jinping und seine und die jüngere Geschichte Chinas – und verstehe, dass ich China viel zu wenig verstehe. 

Stefan Aust, Adrian Geiges: Xi Jinping – der mächtigste Mann der Welt. Piper, 288 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-492-07006-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783492070065

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