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Wo liegt die «Humanitäre Schweiz»?

Publiziert am 7. Dezember 2018 von Matthias Zehnder

Die Schweiz ist immer mal wieder Stolz auf ihre humanitäre Tradition und verweist gerne auf die Geschichte des Roten Kreuzes, auf die eidgenössische Neutralität und die freiwillige Hilfe von Schweizerinnen und Schweizern in Kriegen. Aber kaum jemand ist in der Lage zu sagen, wann die Humanitäre Tradition des Landes eigentlich begonnen hat und worin sie genau besteht. Böse Zungen bezeichnen den Begriff sogar als Erfindung – und das Verhalten des Bundesrats, der es der Schweizerischen Waffenindustrie erlauben möchte, Waffen in Kriegsgebiete zu exportieren, scheint diesen bösen Zungen recht zu geben. Dieses Buch erzählt die Geschichte der humanitären Hilfe in der Schweiz neu.

Das Buch analysiert die Entwicklung der Humanitären Schweiz in fünf Phasen. Die Wurzeln des Schweizer Humanitarismus liegen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Etwas überraschend sieht das Buch nicht den legendären Henri Dunant und sein Rotes Kreuz am Anfang der Entwicklung, sondern die solidarische Hilfe unter Eidgenossen während schrecklicher Naturkatastrophen im 19. Jahrhundert. Als Beispiele nennt das Buch den zerstörerischen Bergsturz von Goldau (1806), den Brand von Glarus (1861) und die schweren Überschwemmungen des Jahres 1868.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert wird diese Humanitäre Hilfe in der Schweiz institutionalisiert, zum Beispiel durch das IKRK. Ein Ausgangspunkt dafür ist der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. Das Verhältnis zwischen der jungen Eidgenossenschaft und dem IKRK war keineswegs spannungsfrei. Der aufkommende Nationalismus bot aber Motiv und Nährboden, die Vorstellung einer Humanitären Tradition zu etablieren.

Als dritte Phase nennt das Buch die Phase der Verrechtlichung des Humanitarismus. Im Zusammenhang mit der Institutionalisierung mehrten sich auf der Ebene der Rechtssetzung die Vorschläge für neue humanitäre Rechtsnormen. Die Genfer Konventionen wurden beispielsweise anlässlich ihrer Revision ausgeweitet (1906, 1929); erstmals entstanden Bestimmungen zum Schutz von Kriegsgefangenen (1929), und diverse Projekte zum Schutz der Zivilbevölkerung wurden im Umfeld des IKRK und der entstehenden humanitären Organisationen nach dem Ersten Weltkrieg diskutiert. 1899 und 1907 entwickelte sich das Haager Kriegsrecht (1899, 1907); ab 1919 schaffte der Völkerbund neue Normen zu humanitären Fragen. 1922 entstand der Nansen-Pass für staatenlose Flüchtlinge und Emigranten. Die Auslegung von Normen wird zu einem immer wichtigeren Teil von Auseinandersetzungen. Im Ersten Weltkrieg beginnen die Kriegsparteien, sich systematisch gegenseitig der Rechtsverletzung zu bezichtigen. Es wurde also zum Thema, wer «im Recht» war.

Im 20. Jahrhundert werden die Krisensituationen immer komplexer. Als vierte Phase bezeichnet das Buch deshalb eine Phase der Professionalisierung der Humanitarismus. Humanitäre Hilfe findet heute in einem globalisierten und kompetitiven Umfeld statt. Debatten um universelle Menschenrechte und die Vorstellung einer international community im Umfeld der Etablierung des UN-Systems beförderten diese Tendenzen seit den 1940er Jahren. Immer häufiger sind es nicht mehr freiwillige Helfer, die einspringen, wo Not herrscht, sondern gut ausgebildete, weltweit einsetzbare Expertinnen und Experten. Es etablieren sich Entwicklungshilfe und Humanitäre Hilfe.

Für die vergangenen Jahre diagnostiziert das Buch als fünftes eine Phase der Re-Politisierung. Humanitäre Hilfe boomt und wird zum medial zelebrierten Akt. In einer globalisierten Welt beschränkt sich dabei humanitäre Hilfe nicht auf humanitäres Handeln an weit entfernten Orten. Humanitäre Hilfe findet auch «zu Hause» statt, etwa im Rahmen der Hilfe von Migranten und Asylbewerbern. Dabei wird die Humanitäre Hilfe aber auch politisiert: Asyl- und Migrationspolitik gehören heute zu den umstrittensten Dossiers der Politik. Humanitarismus tritt immer häufiger auch politisch auf und dient dazu, gesellschaftliche Diskurse und politische Entscheidungen zu legitimieren.

Das Buch schlägt einen interessanten und ordnenden Bogen vom 19. Jahrhundert und der Gründung des Roten Kreuzes bis in die Gegenwart. Die Autoren zeigen nachvollziehbar, wie sich die humanitäre Schweiz herausgebildet hat, wie sie sich institutionalisiert und verrechtlicht und schliesslich wieder politisiert hat. Im Schlusswort betont Historiker Jakob Tanner, dass sich dabei keine festen Beziehungen zwischen dem humanitären Selbst- und Fremdbild und dem Beteiligungsgrad der Bevölkerung an dieser humanitären Schweiz feststellen lassen. Das IKRK sei durchaus ein Verhaltensvorbild für die ganze Bevölkerung, es habe aber weniger der humanitären Mobilisierung gedient als der «ideellen Nobilitierung der Nation». Ein spannendes Buch, das mit einigen Weihrauchwolken in der Schweizer Geschichte aufräumt.

Miriam Baumeister, Thomas Brückner, Patrick Sonnack (Hg.): Wo liegt die «Humanitäre Schweiz»? Eine Spurensuche in 10 Episoden. Campus Verlag, 241 Seiten, 37.90 Franken; ISBN 978-3-593-50957-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783593509570

Buchtipp zum Wochenkommentar vom 7. Dezember 2018: Wie erklären wir das bloss unseren Kindern?

Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps samt Link auf den zugehörigen Wochenkommentar finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/