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Wir Datensklaven

Publiziert am 8. Juni 2023 von Matthias Zehnder

Was ist aktuell die grösste Herausforderung der Menschheit? Auf diese Frage werden die meisten wohl den Klimawandel, den Hunger, den Ukraine-Krieg oder Pandemien nennen. Der aktuelle Bericht an den Club of Rome über den Zustand des Planeten gibt eine weitere Antwort: Die Wissenschaftler sehen das grösste Menschheitsproblem in der datengestützten Desinformation. Früher hätten die Massenmedien Falschinformationen weitgehend eingedämmt. Mittlerweile hätten die sozialen Medien eine «Industrie der Falsch- und Desinformation» entstehen lassen. Johannes Caspar schreibt deshalb: «Die ökologische Krise der Menschheit wird durch eine epistemische Krise verdrängt.» Offenbar bewirken mehr Kommunikation und Information das Gegenteil von mehr Kooperation und mehr Vernunft. Caspar fragt deshalb: «Wie soll es uns künftig gelingen, unsere kleinen und grossen Probleme zu lösen, wenn schon eine Verständigung darüber scheitert?» Über die Ursachen dieser babylonischen Verwirrung der Neuzeit hat Caspar dieses Buch geschrieben. Es dreht sich um die digitalen Weltermächtigungsmodelle und die digitale Ausbeutung der Individualität. Wer die Daten kontrolliert, sieht die Zukunft nicht nur, sondern kann sie auch verändern.

Johannes Caspar weiss, von was er spricht, wenn er über Datenschutz schreibt: Von 2009 bis 2021 war er Hamburgischer Beauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit und hat seit 2015 die unabhängigen deutschen Datenschutzbehörden der Länder im Europäischen Datenausschuss in Brüssel vertreten. Mit seiner Arbeit hat er für den Datenschutz immer wieder Standards gesetzt. So ist er gerichtlich gegen Datenschutzverstösse etwa von Google Street View, Facebook, WhatsApp und H&M vorgegangen und hat den Datenschutz bei Spracherkennungsprogrammen verbessert. Heute  lehrt und forscht er an der Universität Hamburg.

In seinem Buch führt er zunächst ganz grundsätzlich ein in die Welt des Datensammelns. Da steht im Zentrum das Profil: Die digitale Marketingwelt besteht aus persönlichen Profilen. Einige Informationen wie Geschlecht oder Alter können offen erhoben werden, die meisten Daten werden aber heimlich gesammelt – durch digitale Überwachung. Wohnort, soziale Kontakte, Hobbys, Einkommensklasse, Beziehungsstatus, Krankheiten, sexuelle Orientierung und politische Ansichten sind normalerweise offline nicht zugänglich. Im Internet hingegen werden diese Informationen systematisch von verschiedenen Unternehmen und Plattformen gesammelt. Cookies und browserbasierte Fingerabdrücke ermöglichen das Tracking von Personen im Netz und die Erhebung persönlicher Daten. Die Betroffenen bemerken das nicht. Eine Folge davon: Elektronische Supermärkte kennen ihre Kunden manchmal besser als sie sich selbst.

Die Profile, die auf diese Weise von den Menschen im Netz entstehen, sind sehr schlecht geschützt. Sie werden nämlich als Basis für die Versteigerung von Werbeplätzen benutzt und an Hunderte oder Tausende Unternehmen übermittelt. Die reichen dann der Grundlage dieser Informationen Angebote für die Einblendung ihrer Werbung ein. Die Profile der Nutzer im Netz sind also für alle beteiligten Unternehmen zugänglich. Das Irish Council for Civil Liberties bezeichnet das Verfahren als die bisher umfangreichste Datenschutzverletzung, weil riesige Datenmengen über das, was Menschen online sehen, an eine Vielzahl von Unternehmen weitergegeben werden.

Johannes Caspar schreibt, dass die Profile nicht etwa als Basis für bessere Angebot benutzt werden. Sie verfolgt stattdessen eine kalte Strategie automatisierter Berechnung anhand von Daten, die bei allen erdenklichen Gelegenheiten gesammelt, gespeichert und analysiert werden. Es handle sich dabei um eine «manipulative Strategie» mit dem Ziel, «Menschen bei jeder Gelegenheit in die gewünschte Richtung zu bewegen». Letztlich gehe es bei dem Profiling um die Kontrolle der Menschen. Das ist kein Wunder: Ursprünglich stammt das Profiling aus der Strafverfolgung und wurde 1978 beim FBI entwickelt. Caspar schreibt: «Ein System, das die Angriffe auf die Privatsphäre weltweit zum Standard und zur Normalität erhebt, greift massiv in unsere Selbstbestimmung und in die informationelle Integrität ein». Wir müssen dieses System der Kontrolle und der Herrschaft über unsere Daten «nicht nur ethisch und rechtlich hinterfragen, sondern im Kern verändern». Nicht das Recht habe der Technik, sondern umgekehrt die Technik habe dem Recht zu folgen.

In seinem Buch entwickelt Caspar deshalb Vorschläge und Ansätze, wie sich das System der Überwachung und Kontrolle überwinden lässt. «Ein menschengerechter und transparenter Zugang zur digitalen Welt besteht nicht darin, sich vor ihr zu verstecken. Es bedarf klarer Lösungen auf der Basis von Freiheit und Selbstbestimmung sowie aufgeklärter Rechtsstaatlichkeit», schreibt er. «Das Digitale muss mehr sein als bloss ein Kampfplatz, auf dem wir uns gegen die Profilindustrie tagtäglich zur Wehr setzen müssen, um nicht deren leichte Beute zu sein.»

Johannes Caspar: Wir Datensklaven. Wege aus der digitalen Ausbeutung. Econ, 352 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-430-21081-2

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783430210812

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