Buchtipp

Letzter Tipp: Essen
Wie fühlst du dich?
Unsere aufgeklärte Gesellschaft baut auf den Satz von René Descartes: Ich denke, also bin ich. Wir sind heute überzeugt, dass Rationalität unser Leben bestimmt und bestimmen muss: «Unsere politischen und wirtschaftlichen Systeme beruhen auf dieser Grundannahme: Menschen sind in der Lage, rationale Entscheidungen zu treffen und ihre Emotionen im Griff zu haben», schreibt Axel Hacke – um trocken anzufügen: «So ist es aber nicht.» Wir wissen heute, dass Denken nicht nur im rationalen Neocortex stattfindet, sondern im ganzen Gehirn, ja im ganzen Körper. Gefühle und Gedanken lassen sich dabei nicht trennen. Hacke folgert: «Wenn unsere Empfindungen also kein Luxus sind, keine Dreingabe zu einem primär von Rationalität gesteuerten Dasein, sondern ein differenziertes, komplexes und unentbehrliches Hilfsmittel im Leben, dann ist vielleicht auch diese Frage eine, die wir uns täglich stellen und deren Beantwortung wir eine gewisse Aufmerksamkeit schenken sollten.» Gemeint ist die Frage, die seinem Buch den Titel gab: «Wie fühlst du dich?» Hacke schreibt: «Ohne Gefühle können wir nicht vernünftig handeln. Und die Vernunft sagt uns, dass wir unseren Gefühlen Raum zu geben haben, sie beachten sollten und sie nie vernachlässigen dürfen.»
«Wie fühlst du dich?» sei «eine für unsere Zeit programmatische Frage», sagt Hacke. Es gehe dabei nicht um das Versinken in beständiger Selbstbetrachtung. Die Frage sei wichtig, weil ihre Beantwortung die Fähigkeit voraussetze, «über Gefühle zu reden, sie zu erkennen, mit ihnen umzugehen. Es geht um Kompetenz, ein Gefühlswissen, ohne das man sich in unserer Welt zwar bewegen kann, aber nicht sollte. Es geht um eine Fähigkeit zur Reflexion, um die Erkenntnis, dass man Gefühl und Vernunft nicht trennen kann, vor allem aber auch um Eigenständigkeit, darum, sich zu wehren gegen jene, die uns am Nasenring der Affekte durch die Welt führen möchten.»
Ein gutes Mittel gegen den Nasenring ist die Beschäftigung mit den eigenen Gefühlen. Axel Hacke geht ihnen deshalb auf den Grund in seinem Buch: der Einsamkeit und der Angst, der Freude und dem Verbundensein, der Ohnmacht und dem Hass. Dabei geht er auch der Frage nach, wie Gefühle entstehen. Die Neuropsychologin Lisa Feldman Barrett sagt: Gefühle sind nicht einfach da und sie werden auch nicht einfach Ereignissen und Eindrucken ausgelöst. Gefühle sind Konzepte, die unser Gehirn entwickelt hat. Anders gesagt: Gefühle werden von unserem Gehirn konstruiert: «Das Gehirn verleiht Sinnesdaten aufgrund von Erfahrungen eine Bedeutung und leitet im Rahmen von Konzepten Handlungen ein – und solche Konzepte sind Trauer, Wut, Angst, Freude in ihren Schattierungen und Ausprägungen.» Das heisst aber auch: Wir haben eine Wahl, welche Konzepte wir anwenden. Wir können selbst darüber entscheiden, welche Konzepte wir anwenden, wie wir unsere Gefühle formen. Wir sind verantwortlich dafür.

Das ist besonders wichtig, weil Gefühle ansteckend sind: Wut, Zorn und Hass verbreiten sich wie Krankheiten. Aber auch Tapferkeit, Zusammenhalt, Gemeinsinn und Zuversicht können ansteckend sein: «Sie bleiben nicht bei uns, sondern wandern weiter. Unsere Verantwortung ist, einen Beitrag zu leisten», schreibt Axel Hacke. Sein Fazit: «Mein deutliches Gefühl ist nach alledem hier, dass wir aufhören sollten, nur zu fragen, wie wir uns als Einzelne immer weiter verbessern können, wie wir das Letzte aus uns herausholen, unsere Grenzen ausloten und verschieben. Das führt nur weiter hinein in ein Gefühl der Gleichgültigkeit anderen gegenüber. Und dieses Gefühl kommt denen, die nichts Gutes vorhaben und wiederum nur an sich selbst interessiert sind, gelegen.»
Axel Hacke: Wie fühlst du dich? Über unser Innenleben in Zeiten wie diesen. DuMont Buchverlag, 256 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-8321-6810-0
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783832168100
Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/
Basel, 13.10.2025, Matthias Zehnder
PS: Wenn Sie keinen Buchtipp mehr verpassen möchten, abonnieren Sie meinen Newsletter. Dann erhalten Sie jede Woche:
- den neuen Sachbuchtipp
- den aktuellen Buchtipp
- den Hinweis auf den Wochenkommentar
- das aktuelle Fragebogeninterview
Nur dank Ihrer Unterstützung ist der Buchtipp möglich. Herzlichen Dank dafür!