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Wer gebraucht wird, lebt länger

Publiziert am 24. Dezember 2020 von Matthias Zehnder

In der Corona-Krise tritt zu Tage, was wir im Normalfall gerne verdrängen: Unsere Gesellschaft schiebt alte Menschen ab in Pflegeheime. Da werden sie betreut – will heissen: Man nimmt ihnen üblicherweise alle Aufgaben weg und sperrt sie ein. Weil sie sich dadurch nutzlos fühlen, bauen sie körperlich und geistig schnell ab. Dagegen wehrt sich Kaspar Pfister: Er hat Altersheime konzipiert, die anders arbeiten. Und es funktioniert: In seinen Einrichtungen verbessert sich die Pflegestufe der Bewohner. Pfister beschreibt in diesem Buch, was unsere Gesellschaft im Umgang mit pflegebedürftigen Menschen falsch macht und wie man es besser machen könnte. Ein Augenöffner – gerade vor dem Hintergrund der vielen Coronatoten in den Altersheimen!

Eigentlich ist es ja augenfällig: Kaum jemand verbindet mit Wörtern wie «Altersheim» oder «Pflege» ein Leben, das Freude macht und Sinn stiftet. Kaspar Pfister findet jedoch, dass genau das «unser aller Anliegen» sein sollte. Egal um welche Form der Pflege es geht – ob im Heim, betreut oder zu Hause. «Schliesslich sollten wir uns auch im Alter trotz der einen oder anderen Einschränkung glücklich und wohlfühlen.» Doch dazu ist ein Wandel im Bereich der Altenpflege auf allen Ebenen nötig. 

Pfister fordert, dass wir das «Alter nicht als Tabu ausklammern, sondern es mit anderen Augen betrachten». Wir «sollten seinen Reichtum sehen und uns damit auseinandersetzen, wie wir die vierte Lebensphase erfüllt und lebenswert gestalten wollen». Auch wenn wir im Alter vielleicht schlechter sehen, eventuell langsamer denken, wahrscheinlich nicht mehr so beweglich sind und möglicherweise mit Bluthochdruck, Arthritis, Diabetes oder Herzproblemen zu kämpfen haben, so sei es, so Pfister, «dennoch möglich, im Alter freudvoll zu leben und glücklich zu sein. Und das beginnt zuallererst im Kopf».

Aber wie kam es eigentlich dazu, dass wir das Alter nicht mehr ehren, sondern in ihm ein Defizit  sehen? Pfister sieht verschiedene Gründe: Zum einen liessen die fortschreitende Industrialisierung, die Einführung der AHV und der damit verbundenen Pension und der zunehmende Wohlstand Familienstrukturen auseinanderfallen: Grosseltern mussten nicht mehr für die Enkel und die Familie da sein. «Sie waren im Generationengefüge nicht mehr ein wichtiger stabilisierender Faktor als Haushaltshilfe, Köchin, Geschichtenerzähler oder Kinderaufpasser», schreibt Pfister. Auf den ersten Blick war das eine positive Entwicklung: Die Generation der Grosseltern konnte es sich zum ersten Mal gut gehen lassen, ihren «wohlverdienten Ruhestand» geniessen und die Hände in den Schoss legen. Schliesslich hatte es sich die Generation das nach vielen Jahren harter Arbeit verdient, sich ausruhen zu dürfen.

Mittlerweile gilt also umso erfolgreicher, je früher ein Mensch seinen Beruf an den Nagel hängt. Man demonstriert damit, zu welch finanziellem Wohlstand man es gebracht hat, dass man «seine Schäfchen im Trockenen» hat und sich deshalb aus dem Erwerbsleben zurückziehen kann. Gleichzeitig wurde mit der Leistungsgesellschaft das «Alter zum Stigma», schreibt Pfister. «Denn zählen nur noch Ergebnis und Output, wird Alter zum limitierenden Faktor.» Vor allem, wenn sich in einem globalen, immer digitaler werdenden Wettbewerb das Hamsterrad schneller und noch schneller dreht. Alter wurde in der Digitalgesellschaft vom Kapital zur Belastung. Das muss nicht sein. Pfister erinnert an Entwicklungen in den USA, wo in dieser Hinsicht grundsätzlich umgedacht wird und Alter wieder einen anderen Stellenwert zu erhalten beginnt: «Dort soll der Begriff ‹Ageist› klarmachen, Alter – ähnlich wie Rasse und ‹Racist› – nicht als Diskriminierungsfaktor geltend zu machen.» Denn jeder ältere Mensch habe das Recht, wertschätzend behandelt zu werden – auch dann, wenn er im höheren Alter auf Pflege angewiesen sein sollte. Dafür brauchten wir laut Pfister aber nicht nur einen Kultur-, sondern auch einen Systemwandel.

«Statt betagte Menschen in einen wattierten Kokon zu packen und sie zur Passivität zu zwingen, brauchen wir neue Wege im Gesundheitssystem und in der Pflege. Wege, die die natürlichen Möglichkeiten des Menschen berücksichtigen und ihn nicht dazu animieren oder gar verdammen, seine Eigenverantwortung abzugeben und inaktiv zu werden», schreibt Pfister. In seinem Buch zeigt er Wege auf, die auf jahrelanger, praktischer Erfahrung beruhen. Wir brauchen, schreibt Pfister, «einen neuen Ansatz, eine zugewandte menschliche Pflege ohne Defizitdenken.» Dass dies möglich ist und wie man solche Modelle umsetzen kann, davon berichtet er in seinem Buch. Eine spannende Lektüre, die so manches Auge öffnen dürfte.

Kaspar Pfister: Wer gebraucht wird, lebt länger. Was in der Pflege schiefläuft und der Beweis, dass es auch anders geht. Econ, 224 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-430-21031-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783430210317

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Buchtipp zum Wochenkommentar vom 24. Dezember 2020: Mein Fragebogen 2020

Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps samt Link auf den zugehörigen Wochenkommentar finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/