Buchtipp
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Wenn jeder an sich denkt, ist nicht an alle gedacht
Wie weit darf die Freiheit des Einzelnen gehen? Was ist Solidarität? Was sagt das über unsere Gesellschaft, wenn wir selbst in der Krise nicht zu einer Gemeinschaft werden? Und welche Rolle soll (oder darf) der Staat dabei spielen? Das sind die zentralen Fragen dieses Buches. Nicht nur die Corona-Krise hat gezeigt, dass wir um Antworten auf diese Fragen zunehmend verlegen sind. Skudlarek sagt, dass sich der gesunde Individualismus in einer «individualistischen Schieflage» befinde. Er meint damit Menschen, die sich in aller Selbstverständlichkeit verhalten, als wären sie allein auf der Welt. Er fragt, woher die Selbstgewissheit komme, «dass es in Ordnung ist, mit den eigenen Bedürfnissen die Interessen anderer zu überschreiben? Wie kommt es, dass ich meinen Körper nicht als einen Körper unter vielen verstehe, sondern als den einzigen, auf den es wirklich ankommt?»
Historisch gesehen ist dieser brutale Hyper-Individualismus alles andere als typisch für unsere Spezies. Jäger und Sammler und auch die ersten Bauern lebten in Kleingruppen. Und das aus purer Notwendigkeit: «Die soziale Lebensgemeinschaft war eine Überlebensgemeinschaft.» Der moderne (westliche) Mensch hat im Gegensatz dazu die Qual der Wahl: Wir leben, wie Peter Gross es formulierte, in einer «Multioptionsgesellschaft». Jeder Mensch kann «seinen Berufsweg, seine Vorlieben, sein Privatleben, also seinen gesamten Lebensweg aus einer unendlichen Anzahl von Optionen auszuwählen». Skudlarek folgert sarkastisch: «Wohin man auch sieht: autonome Subjekte überall. Freiheit.» Denn heute gehen viele so genannte Liberale «weit über eine liberale Grundsicherung hinaus», schreibt er. Sie erklären «das Individuum zum alleinigen Dreh-und Angelpunkt des Freiheitsbegriffes» und verletzen dabei das «Prinzip persönlicher Einschränkung zur Schadensvermeidung». Viele heutige Liberale lehnen deshalb selbst nachweislich sinnvolle staatliche Regelungen vehement ab, vom Tempolimit auf deutschen Autobahnen über Maskenpflicht oder Impfvorgaben bis zu Regeln rund um das Klima. Oder, wie Skudlarek es formuliert: «So verkümmerte der einstige stolze Liberalismus, der sich vollkommen zu Recht gegen die Unterdrückung durch eine absolutistische Obrigkeit wandte, im Deutschland des 21. Jahrhunderts zu einem Porschefahrer-Liberalismus, der mit einer «Steuern sind Raub»-Mentalität über tempolimitfreie Autobahnen brettert.»
Gerade wenn man es so geballt serviert bekommt wie in diesem Buch, muss man sich darüber wundern: Wie ist es gekommen, dass wir das Recht des Einzelnen so stark über das Recht des Anderen stellen? In einer freiheitlich-demokratische Gesellschaft schätzen wir die Vorstellung, dass jeder «seinen körperlichen Nahbereich», wie Skudlarek schreibt, «halbwegs wunschgemäss gestalten kann, solange die eigene Lebensweise andere nicht zu sehr beeinträchtigt – oder ihnen gar schadet.» Dieser letzte Punkt ist elementar: Im Zweifel hat Schadensprävention Priorität gegenüber Freiheit. Deshalb ist heute in Innenräumen die Freiheit der Raucherinnen und Raucher beschränkt, weil ihr Rauch anderen Menschen schadet. Bei Lichte besehen würde dasselbe auch für die Geschwindigkeit auf Autobahnen, das Impfen und (auch jenseits von Corona) Masken im öffentlichen Verkehr gelten.
Skudlarek schreibt: «Gemeinwohlfördernde Regeln zur Schadensminimierung sind im besten, im eigentlichen Sinne liberal.» Oder besser: Sie wären es. Genauer gesagt sind sie sozialliberal. Während der Liberalismus die Freiheit primär – und schlimmstenfalls ausschliesslich – vom Individuum her denkt, denkt der Sozialliberalismus «in Kategorien individueller Freiheitsräume, aber zusätzlich mit Bezug auf das Wohlergehen und die Freiheit anderer.» Eine sinnvolle Einschränkung schädlicher oder gefährlicher Verhaltensweisen und damit die entsprechende Einschränkung der Freiheit ist insgesamt freiheitsfördernd und damit im eigentlichen Sinne liberal.
Das Prinzip wäre: Meine Freiheit endet dort, wo deine beginnt. «Das wäre im besten Sinne liberal», schreibt Skudlarek. Doch viele Menschen verstehen unter Freiheit ausschliesslich ihre grenzenlose Ich-Freiheit. Das Problem ist: Wenn jeder nur an sich denkt, ist eben nicht an alle gedacht. «Stattdessen entsteht ein soziales Vakuum», schreibt Skudlarek. Ein Vakuum, das eigentlich untypisch ist für den Menschen, denn Menschen sind nicht nur soziale Wesen, sie haben immer auch nur in Überlebensgemeinschaften überlebt.
In seinem Buch tritt er den Weg von diesem radikalen Ich zum Wir an: Er versucht, die Vorstellung, dass es in einem Leben in erster Linie um einen selbst geht, «mit der Vorstellung in Einklang zu bringen, dass dieses Ich nur im Sozialkollektiv stattfindet». Bei der Lektüre des Buches musste ich mich immer wieder beherrschten, nicht laut «Ja! Genau!» zu rufen. Selten habe ich in einem Buch so viele Sätze unterstrichen. Sätze wie diesen: «Unsere zukünftige Freiheit scheint paradoxerweise gerade deshalb in Gefahr, weil wir aus egoistischen Gründen nichts zu ihrem Schutz unternehmen – da wir uns zu sehr um die gegenwärtige Freiheit sorgen.»
Jan Skudlarek: Wenn jeder an sich denkt, ist nicht an alle gedacht. Streitschrift für ein neues Wir. Tropen, 240 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-608-50178-0
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783608501780
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