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Weltunordnung

Publiziert am 31. August 2023 von Matthias Zehnder

Als die Sowjetunion implodierte, in Deutschland die Mauer fiel und damit der Ost-West-Konflikt ein Ende fand, herrschte Euphorie. Es war die Rede vom «Ende der Geschichte» und vom Beginn eines ewigen Friedens. Heute haben wir ein ganz anderes Bild der Welt: Es ist schlicht beängstigend. Selbst in Europa herrscht wieder Krieg. Wie vor 100 Jahren wird mit Infanterie und Artillerie um jeden Meter Boden gekämpft. In Afrika und Südamerika zerfallen Staaten. Die Uno hat an Einfluss verloren. Immer wieder haben die westlichen Staaten versucht, eine neue globale Ordnung zu schaffen. Carlo Masala schreibt in seinem Buch, dass sie genau damit dazu beigetragen haben, «dass wir heute in einer Welt der Unordnung leben». Aber die Versuche, die Demokratie global auszuweiten und die internationale Politik zu verrechtlichen, sind immer wieder gescheitert. Carlo Masala sagt, es habe keinen Sinn, auf eine neue Weltordnung zu hoffen. Es spreche vieles dafür, dass «diese Unordnung, die Akademiker, Praktiker und die an internationaler Politik interessierten Bürger beunruhigt, mehr als eine Übergangsphase» sei. Ein Zustand, «an den wir uns, auch wenn er unserer ordnungsliebenden Natur zuwiderläuft, gewöhnen sollten – und an den sich staatliche Politik anpassen muss.»

Das scheint auf den ersten Blick paradox. Schliesslich waren es lokale Akteure, die in Regionen wie dem Mittleren und Nahen Osten oder in Teilen Afrikas immer wieder für Chaos sorgen. Diese Wahrnehmung zeige, «wie wenig der «Westen» aus seiner fehlgeschlagenen Politik der Universalisierung seiner Werte und Normen gelernt hat. So als ob es das Scheitern in Afghanistan (2001), im Irak (2003) oder in Libyen (2011) nie gegeben hätte, erschallt bei fast jeder neuen Krise, jedem neuen Konflikt sofort der Ruf nach Intervention des Westens und wird die Demokratisierung als Allheilmittel der Konfliktlösung propagiert.»

In seinem Buch geht er davon aus, dass uns die Geschichte keine Hinweise darauf geben kann, wie wir uns verhalten sollen, weil es für die Weltunordnung, in der wir leben, keine historischen Vorläufer gibt. Er entwirft in seinem Buch denn auch keine neue Weltordnung. Er wendet sich im Gegenteil vehement gegen die Forderung nach einer neuen, liberalen Weltordnung – schon gar nicht sollen die Staaten des Westens einer neuen Ordnung mit Gewalt zum Durchbruch verhelfen. Wunschdenken sei «kein guter Ratgeber für eine kluge Politik». Die Politik müsse vielmehr «mit den Realitäten rechnen und das Erreichbare gegen das Wünschbare abwägen». Auch wenn wir uns über Potentaten und Diktatoren aufregen und so sehr wir ihre politischen Systeme verachten: «Wir können uns nicht aussuchen, wer in anderen Teilen der Welt die Macht besitzt. Kluge Politik muss auch mit Diktatoren verhandeln, die wir für ihre Taten verabscheuen.» Wer versuche, die eigene Aussenpolitik ausschliesslich moralischen Massstäben auszurichten und die Welt in Gut und Böse einteile, der werde «nicht Ordnung schaffen, sondern nur immer wieder neues Chaos anrichten».

Carlo Masala macht in seinem Buch deshalb keinen Versuch, eine neue Ordnung zu entwerfen, sondern analysiert die Unordnung der Gegenwart. Das Problem dabei: Wir müssen uns von festen Strukturen verabschieden. Die Gegenwart ist laut Masala «von Ad-hoc-Entwicklungen gekennzeichnet, in denen sich immer neue Koalitionen oder Gruppen von Staaten zusammenfinden, um den Versuch zu unternehmen, Probleme zu lösen.» Ein Blick auf das Verhalten der Brics-Staaten gibt ihm recht. Masala sagt: «Das Klein-Klein der konkreten Problemlösung in wechselnden Koalitionen wird wichtiger als grosse Visionen einer neuen Weltordnung.» Stabilität und Frieden seien wichtiger als Moral und Demokratie. «Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten gewinnt wieder die Oberhand gegenüber humanitären Interventionen und Regimechange.»

In seinem Buch wendet sich Masala dezidiert gegen eine «liberale Betrachtung der internationalen Politik», wie er schreibt: Liberale «gehen davon aus, dass es möglich ist, die Konfliktanfälligkeit auf der internationalen Ebene durch gute und kluge Politik zu minimieren und den Wohlstand für alle in der Welt zu mehren». Und zwar durch Demokratisierung und die Verbreitung westlicher Werte. Wenn eine liberale Sicht auf die internationale Politik in grossen, mächtigen Staaten dominiere, dann werde es gefährlich: Dann «werden Staaten versucht sein, diese Sichtweise mit den ihnen zur Verfügung stehenden Machtmitteln umzusetzen.»

Dem stellt Masala eine «realistische Sichtweise» entgegen, die von der Annahme ausgeht, dass internationale Politik primär durch das Streben nach Macht gekennzeichnet ist. Weil es in der Welt keine übergeordnete Instanz gibt, die darüber wacht, dass Regeln eingehalten werden, sind Staaten stets zunächst um ihre eigene Sicherheit besorgt. Um die Sicherheit zu garantieren, streben sie nach Macht. «Dadurch entsteht zwischen Staaten ein Wettbewerb, der durchaus in Krieg münden kann.» Grossmächte ringen miteinander um regionale oder sogar globale Vorherrschaft. Ihr Handeln wird nicht durch eine Orientierung am Allgemeinwohl motiviert, sondern durch ihre eigenen Interessen. Institutionen, Regeln und Normen sowie das Völkerrecht haben dabei nur eine nachrangige Bedeutung.

Derzeit sieht Masala auf der Welt vor allem eins: Widerstand gegen die USA. Amerika sei zwar als Sieger aus dem Ost-West-Konflikt hervorgegangen, sehe sich jetzt aber vor allem mit Ablehnung konfrontiert. Die Politik der USA und ihrer Verbündeten der letzten 30 Jahre habe den Widerstand etwa in Form des islamistischen Terrorismus provoziert. Das Ziel dieses Kampfes sei weniger ein Angriff auf «unsere» Art und Weise des Lebens, sondern Widerstand gegen «unsere» Politik in dieser Region. Widerstand gegen die USA sei auch das Motiv, das die Politik der Brics-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. «Diese aufsteigenden Mächte wollen sich nicht in die liberale Weltordnung integrieren und sich von deren Normen und Werten in ihrer Politik einengen lassen. Sie streben eine neue Weltordnung an, die ihren Interessen und ihrem Selbstverständnis entspricht.»

Masala schreibt, es fehle auch an einer globalen Ordnung, weil die Grossmächte keine gemeinsame Idee von dieser Ordnung hätten: Darauf zu hoffen, dass die Welt sich in einer Übergangsphase befindet und sich dieser Zustand alsbald legt, ist aber vergeblich.» Ein Grund dafür ist auch, dass Staaten nicht mehr die einzigen Akteure sind. In der Wirtschaft spielen auch transnationale Wirtschaftsunternehmen, unsichtbare Märkte und Nicht-Grossmächte eine immer wichtigere Rolle. Zwar versuchen Staaten auch weiterhin, Regeln zu setzen, in deren Rahmen sich auch nicht-staatliche Akteure bewegen müssen, allerdings wird dies zunehmend schwieriger.

Masala empfiehlt deshalb, sich von der Vorstellung einer funktionierenden, globalen Ordnung zu verabschieden. Das öffne «nicht nur den Blick für die Realitäten internationaler Politik des 21. Jahrhunderts, sondern auch für die Möglichkeiten, unter den gegebenen Umständen eine realistische Politik zu betreiben». Eine Politik, die in einem anarchischen internationalen System stattfindet. Die Staaten müssen deshalb den Schutz ihrer Souveränität und territorialen Integrität selbst organisieren. Das 21. Jahrhundert werde «dadurch gekennzeichnet sein, dass man das Unerwartete erwarten muss und dass keine grossen Strategien für eine stabile Ordnung in der internationalen Politik entwickelt werden können».

Das bedeutet, dass eine realistische Aussen- und Sicherheitspolitik sich strikt an den eigenen Interessen orientieren und anerkennen muss, dass es Konflikte und Entwicklungen gibt, die man nicht beeinflussen kann. «So sind etwa alle Versuche, am territorialstaatlichen Prinzip in Teilen Afrikas festzuhalten, bislang gescheitert, und meine Prognose wäre, dass solche Versuche künftig auch im Mittleren und Nahen Osten scheitern werden», schreibt Masala. Die westlichen Länder müssten sich «von ihrem Traum einer immer weiter fortschreienden Verrechtlichung der internationalen Politik verabschieden». Die Welt des 21. Jahrhunderts ist in Unordnung. Fehlende Ordnung bedeutet laut Masala aber «nicht notwendigerweise Chaos, wenn man lernt, sich auf die gegebenen Bedingungen einzustellen».

Carlo Masala: Weltunordnung. Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens. C.H.Beck, 199 Seiten, 24.90 Franken; ISBN 978-3-406-79325-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783406793257

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