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Wandern mit Nietzsche
Friedrich Nietzsche war die meiste Zeit seines Lebens auf der Suche nach dem Höchsten und Tag für Tag entschlossen, sich dafür die physische und geistige Landschaften zu erschliessen. Zum Beispiel im Engadin: Über Sils-Maria schrieb er, dass «hier und nirgends anderswo meine rechte Heimat und Brutstätte ist.» Kein Wunder, zieht es John Kaag nach Sils Maria, als er sich mit Nietzsche beschäftigt. Dieses Buch erzählt von zwei Reisen, die Kaag nach Sils Maria mit Nietzsche unter dem Arm unternommen hat: eine als junger Mann von neunzehn Jahren, die andere siebzehn Jahre später – unter gänzlich anderen Umständen. Nun ist er Ehemann und Vater, seine Frau und sein Kind sind mit dabei. Beidemale versucht er, Nietzsche als Lebensphilosoph zu nutzen und kommt dabei zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Kaag weiss, wovon er schreibt: Er ist Professor für Philosophie an der University of Massachusetts, Lowell.
In seinem Buch mischt er die Erzählung der persönlichen Erlebnisse in Sils Maria, die Beschreibung der Wanderungen, seine Suche nach Zaratustra, mit Zitaten aus dem Werk von Nietzsche. Er beschreibt die schwärmerische Reise des Neunzehnjährigen, der, begeistert von der Philosophie Nietzsches sich geradezu auf die Spuren des grossen Mannes wirft – und prompt droht, in den grossen Fussstapfen unterzugehen. Das Buch handelt von «wieder erlaubten Zielen», die man sich immer noch erträumt. Es handelt davon, wie man mit Nietzsche hinüber ins Erwachsenenleben wandert. «Als ich das erste Mal den Corvatsch bestieg, dachte ich, das einzige Ziel des Bergsteigens sei, über die Wolken und ins Freie zu kommen, aber im Laufe der Jahre, in denen mein Haar allmählich ins Graue changiert, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass dies wirklich nicht das einzige Ziel des Wanderns oder auch des Lebens sein kann. Es stimmt schon, je höher man steigt, desto weiter kann man sehen, aber es stimmt auch, dass, ganz gleich wie hoch man auch klettert, der Horizont sich doch immer wieder aus dem Blick stiehlt.»
Je älter er werde desto bedrängender und verwirrender empfinde er die Botschaft von Nietzsches «Übermensch»: «Wie hoch ist hoch genug ? Worauf soll ich genau schauen oder, ehrlicher gefragt, wonach soll ich suchen ? Was ist der Sinn dieser Blase an meinem Fuss, des Schmerzes der Selbstüberwindung ? Wie genau bin ich auf diesen besonderen Gipfel gelangt ? Soll ich mich mit diesem Gipfel zufriedengeben?» Nietzsche schrieb: «Die junge Seele sehe auf das Leben zurück mit der Frage: Was hast du bis jetzt wahrhaft geliebt, was hat deine Seele hinangezogen ?» John Kaag findet, das seien «genau die richtigen Fragen, die man sich stellen sollte». Wie das Altern selbst, sei es nicht das Projekt des «Übermenschen», an irgendeinem bestimmten Ziel anzukommen oder für alle Zeiten einen Raum mit Aussicht zu finden.
Kaag hat deshalb eine Geschichte geschrieben über den Versuch, sein gegenwärtiges Selbst etwas Unerreichtem, aber Erreichbarem, das allerdings noch ausser Sicht ist, zuzueignen. Dabei kann selbst das Ausrutschen lehrreich sein. «Etwas geschieht mit einem, nicht auf dem Gipfel, sondern auf dem Weg dahin. Man hat die Chance, in Nietzsches Worten, der «zu werden, der man ist». Sein Buch ist deshalb ebensosehr ein Buch über das Wandern in Sils Maria wie über Nietzsche.
Ein besonderer Leckerbissen für uns Einheimische: Im Epilog des Buchs schreibt der amerikanische Philosophieprofessor über den Basler Morgestraich. «Schliesslich ist die Zeit wie im Nu vergangen, und die Nacht schwindet. Die Parade verläuft sich, und die Sonne geht auf. Alle grossen Feste basieren auf einem Zyklus von Tod und Wiedergeburt. Es ist ganz gleich, wo sie gefeiert werden – Ostern, Halloween, Ramadan, Diwali, Saturnalien oder Morgestraich –, sie haben alle eine ähnliche Note. Dinge müssen leiden, sich verdunkeln, vergehen, bevor sie wieder zu leben beginnen. Dies ist keine Flucht vor dem Leben oder eine Auszeit davon, sondern vielmehr seine Verwirklichung: am Ende zu glühen wie Zarathustra.» Schön.
John Kaag: Wandern mit Nietzsche. Wie man wird, wer man ist. Btb, 320 Seiten, 17.50 Franken; ISBN 978-3-442-77233-9
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783442772339
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