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Von der Steinzeit ins Internet

Publiziert am 25. November 2021 von Matthias Zehnder

Gemessen an der Zeit, welche die Evolution benötigte, um den Menschen hervorzubringen, ist die Zeit des Computers ein winziger Augenblick. Neurowissenschaftler Lutz Jäncke beschreibt in seinem neuen Buch, was passiert, wenn unser «Steinzeit-Hirn» sich in der digitalen Welt bewegt. Denn bei aller Euphorie über die technische Revolution und die Digitalisierung – darf man, schreibt Jäncke, «nicht ausser Acht lassen, dass letztlich der Mensch als biologisches Wesen der Akteur in dieser Wunderwelt des Internets ist.» Er stellt sich deshalb die Frage, ob der Mensch überhaupt mit den psychischen Fertigkeiten ausgestattet ist, um in dieser digitalen Welt zu überleben. 

Ein Mensch aus der Steinzeit, schreibt Jäncke, sei in seinem ganzen kurzen Leben «weniger fremden Menschen begegnet sein als ein Berliner an einem Tag bei seinen Fahrten morgens und abends mit der U-Bahn zwischen Arbeitsstelle und Wohnung». Und das blieb für sehr lange Zeit so. «Im Grunde lebte der Mensch dort, wo er geboren wurde, bis zu seinem Tod.» Im Durchschnitt war das ein kleines Dorf oder eine kleine Stadt mit relativ wenigen Einwohnern. Jäncke folgert daraus, dass «der Mensch über 70’000 Jahre eher darauf konzentriert gewesen sein muss, sich mit seinen Gruppenmitgliedern zu verständigen. Fremde Menschen müssen für ihn etwas Besonderes, Interessantes oder sogar Gefährliches gewesen sein.» In dieser langen Phase der «Einsamkeit» hätten sich «spezifische Kommunikationsfähigkeiten und das für den Menschen typische Sozialverhalten herausgebildet». Der Mensch hat sich also im Zuge der Evolution zu einem «Sozialwesen entwickelt, für das die Kommunikation mit den Gruppenmitgliedern von herausragender Bedeutung ist», schreibt Jäncke. Typisch für den Menschen ist, dass er sehr viel Ressourcen in den Aufbau und Erhalt der Gruppenzusammengehörigkeit und in das Vertrauen der eigenen Gruppenmitglieder investiert. «Die Kommunikation in diesen Gruppen erfolgt von Angesicht zu Angesicht und in ständigem physikalischem Kontakt mit den Gruppenmitgliedern. Gruppenfremde sind zunächst bedrohlich und werden mit Zurückhaltung behandelt.»

Dieser Mensch tritt nun ein in eine Onlinewelt, in der er mit Kontakten und Informationen überflutet wird. «Dadurch wird unser Mitgefühl, aber auch die Sicht über uns selbst in Mitleidenschaft gezogen.» Jäncke kommt zum Schluss, dass sich «immer mehr Menschen wie Avatare, also digitale Wesen verhalten. Sie präsentieren sich auf Instagram oder sonstigen Kanälen, indem sie sich verfälscht, also unnatürlich präsentieren. So als ob sie hinter einer virtuellen Maske im virtuellen Raum agieren würden.» Auch die Menge und ständige Verfügbarkeit interessanter und aufmerksamkeitsraubender Nachrichten und Informationen überlastet unser Gehirn. «Es ist schlichtweg nicht geschaffen, um sich in der Internetwelt wie ein Multitasker zu entfalten.»

Das Gehirn des Menschen wird also mit vollkommen neuen Anforderungen konfrontiert, auf die es biologisch in den letzten 150’000 Jahren nicht vorbereitet worden ist. Immer und überall stehen uns riesige Mengen an Information und Unterhaltung zur Verfügung. «Diese enorme Vielfalt von Informationen führt zu einer unüberschaubaren Menge an Auswahlmöglichkeiten, die uns überfordern.» Dazu kommt, dass das Internet es den Menschen ermöglicht, einfach und rasch Bedürfnisse (Lust) zu Befriedigen, die im realen Leben «aus Gründen des sozialen Zusammenhalts gehemmt» sind. Typische Beispiele sind für Jäncke «erotische und aggressive Inhalte, die mittlerweile zu den am häufigsten gesuchten und konsumierten Internetinhalten gehören.» Es werd somit immer bequemer, sich der Befriedigung der basalen «Lust» hinzugeben. Neurophysiologisch führt das laut Jäncke dazu, dass sich der Mensch daran gewöhnt, diesen Lusttrieben rasch nachgeben zu können. Der Mensch wird zum «Lustwesen». Dabei stellt sich die Frage, ob und wie wir uns an die moderne Internetwelt anpassen. «Wird die ständige und immerwährende Präsenz angenehmer, ja Lust spendender Reize dazu führen, dass wir immer intensivere Lustreize benötigen?» Das Lustsystem hat «eine enorme Bedeutung für uns als biologische Wesen», schreibt Jäncke. Es stelle sich deshalb die Frage, ob wir «nicht in Gefahr sind, Sklaven dieses Systems zu werden, wenn wir nicht lernen, es zu beherrschen. Dies ist vor allem ein Problem der heutigen Zeit, denn der Genuss Lust auslösender Reize ist im Internet praktisch jederzeit möglich.»

Dazu kommt, dass die neuen Kommunikationswerkzeuge auch das Kommunikationsverhalten des Menschen massiv verändert haben. Wir kommunizieren über E-Mail. Chat, WhatsApp und mit vielen anderen Tools. Das Problem dabei: Online entkoppeln sich die verschiedenen Kommunikationskanäle. Die Menschen präsentieren sich immer häufiger nur sprachlich oder nur per Mimik. «Damit werden unsere Botschaften unvollständig und immer häufiger missverständlich», schreibt Jäncke.

Diese Veränderung der zwischenmenschlichen Dynamik, die damit verbundene «Verkrüppelung der Kommunikation und Abstumpfung gegenüber unangenehmen Informationen» hat bereits messbare Folgen bei vielen Menschen. So haben Studien gezeigt, dass die Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl messbar abgenommen hat. «Empathie hat im evolutionären Kontext eine gruppenbildende Funktion», schreibt Jäncke. «Über Empathie werden die Gruppenmitglieder zusammengeschweisst.» Die Gruppenmitglieder synchronisieren mit Empathie ihre Gefühle. Der Verlust der engen Gruppe und die Überflutung mit Kontakten im Internet hat offenbar zu einer Abnahme von Empathie und Mitgefühl geführt. Dafür haben Narzissmus und Egoismus messbar zugenommen.

Auch kognitiv ist die digitale Welt eine grosse Herausforderung für das Gehirn. Ein Problem ist dabei das Multitasking, das Springen zwischen Aufgaben. «Prinzipiell sind wir schlechte Multitasker», schreibt Jäncke. Multitasking erfordere sehr viele geistige Ressourcen. «Dazu gehören Aufmerksamkeit und Selbstdisziplin.» In die Kontrolle des Multitaskings ist insbesondere das Impulskontrollsystem im Stirnhirn eingebunden. Das Stirnhirn sei eines der Hirngebiete, das als letztes reife. …Deshalb haben Jugendliche und Heranwachsende oft Probleme mit den Funktionen, die vom Impulskontrollsystem kontrolliert werden.»

Wenn das Gehirn mit vielen interessanten Informationen bombardiert wird, dann muss es einen Weg finden, um mit dieser Informationsflut zurechtzukommen. Entweder es lerne, sich auf wesentliche Informationen zu fokussieren und die eher unwichtigen auszublenden, oder es lerne, sich auf die vielen Reize einzulassen und sich von ihnen treiben zu lassen. Im ersten Fall fokussiert man seine Aufmerksamkeit und geistige Kontrolle auf die wesentlichen Informationen und unterdrückt andere eher störende Informationen. Im zweiten Fall lässt man sich treiben und die Reize bestimmen Denken und Handeln. 

Den unendlichen Verlockungen des Internets und der digitalen Welt zu widerstehen, ist schwierig für die neugierigen Primaten, die wir letztlich immer noch sind. Wir seien deshalb «anfällig für einfache, Aufmerksamkeit erhaschende Nachrichten.» Dabei nehme auch die Manipulierbarkeit zu. Ganz grundsätzlich wird es laut Jäncke für den Menschen immer schwieriger, den Spagat zwischen der digitalen und der analogen Welt emotional und kognitiv zu bewältigen, weil in der digitalen Welt  viele der in uns implementierten Verhaltens- und Wahrnehmungsmechanismen nicht mehr wirksam sind.

Was tun? Jäncke empfiehlt deshalb, zu  lernen, sich auf Wesentliches zu fokussieren. «Wir müssen die Fähigkeit erwerben bzw. verstärken, aus der immer grösser werdenden Informationsmenge das auszuwählen, was uns weiterbringt und was für uns wichtig ist.» Wir müssen mit anderen Worten (digitale) Selbstdisziplin erwerben. Jäncke schreibt, dass wir regelmässig «Aufmerksamkeits- und Selbstdisziplintrainings» durchführen müssten. Er empfiehlt deshalb Konzentration, Fokussierung und Entschleunigung und gibt konkrete Tipps, wie das im Informationsalltag des Internets zu erreichen ist. Ein sehr spannendes – und sehr wichtiges Buch!

Lutz Jäncke: Von der Steinzeit ins Internet. Der analoge Mensch in der digitalen Welt. Hogrefe, 168 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-456-86150-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783456861500

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