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Vom Zauber des Untergangs

Publiziert am 27. Juli 2023 von Matthias Zehnder

An Universitäten und Museen, auf Ausgrabungsstätten und unter Fachleuten werden normalerweise nur Fakten diskutiert. Selten wird darüber gesprochen, was diese Forscher und Fachleute emotional antreibt, was «zu unserer Seele spricht», wie Gabriel Zuchtriegel es ausdrückt. Doch der Grundriss eines Tempels ist uninteressant, wenn er nicht dazu dient, die ästhetischen, religiösen, sozialen und emotionalen Erfahrungen der Bauherren und Architekten zu rekonstruieren. So gesehen steckt in jedem Bauwerk eine Welt. Zuchtriegel schreibt dazu, dass der Sinn darin besteht, die Vergangenheit zu rekonstruieren, um unsere eigene Welt zu erweitern, möglicherweise zu relativieren und zu erkennen, dass eine andere Welt möglich ist – eine Welt, in der Veränderung möglich ist. Er sitzt dafür an der Quelle: Zuchtriegel ist Direktor des Archäologischen Parks von Pompeji. In seinem Buch geht es ihm um die Frage, warum uns die Antike heute überhaupt noch interessiert: Was erzählt sie uns respektive über uns? Was macht archäologische Entdeckungen eigentlich bedeutsam? Zuchtriegel sagt, dass wir uns dafür «mit unserer persönlichen Geschichte und unseren emotionalen Triebfedern» auseinandersetzen müssen. Ohne diese persönliche Verbindung «gäbe es weder Archäologie noch Kunstgeschichte oder Geschichte, sie ergäben schlicht keinen Sinn.» Denn: «Die Vergangenheit ist gar nicht wirklich vorbei: Wir, die wir sie immer neu erzählen und entdecken, sind mittendrin.»

Was er damit meint, führt Zuchtriegel in seinem Buch vor. Er nimmt die Leserin, den Leser mit auf einen exklusiven Rundgang durch Pompeji. Dabei erzählt er nicht einfach trockene Fakten, sondern von den Menschen, die da gelebt haben, von ihren Leidenschaften, Gewohnheiten, ihrer Religion und ihrer Sexualität. Pompeji eignet sich deshalb für einen Einblick in den Alltag der Antike, weil der Vulkanausbruch im Jahr 79 n. Chr. das Leben in der Stadt eingefroren hat. Hausrat, Waffen, Kunstgegenstände und Bekleidung finden sich da, wo sie im Alltag in Gebrauch waren. Das ist aussergewöhnlich: Im Normalfall müssen sich Archäologen mit Abfallhalden als wichtigste Quellen zufriedengeben.

Zuchtriegel beginnt seinen Rundgang mit der Schilderung des Untergangs der Stadt: mit dem katastrophalen Ausbruch des Vesuvs. Eine Frage drängt sich dabei immer wieder auf: Dürfen wir uns überhaupt an dem erfreuen, was wir da finden? Zuchtriegel nennt den «Garten der Flüchtlinge» in Pompeji, wo Archäologen dreizehn Opfer des Vesuvausbruchs entdeckt haben, darunter mehrere kleine Kinder. Die Leerräume, welche die Toten hinterlassen haben, wurden mit Gips ausgegossen. So stehen die Opfer wie lebendige Abgüsse vor den Besuchern. Darf man sich als Besucher in Pompeji an diesen Gipsfiguren freuen? Verhalten wir uns dabei nicht wie Gaffer bei einem Unfall? Schon diese Frage zeigt: Es geht Zuchtriegel nicht nur um die Sache und das Wissen, sondern vor allem auch um unser Verhältnis dazu.

Er erzählt deshalb, wie er selbst zur Archäologie gefunden hat, wie er die distanzierte Art und Weise seiner Professoren nicht mochte und wie er versuchte, die Antike mit Leben zu füllen. Ein Zugang dazu eröffnete sich ihm durch die Darstellung von Hermaphroditen in Pompeji. Da stellte er fest, dass es grosse Differenzen gibt zwischen dem hergebrachten Wissen der Altertumswissenschaftler und der vor Ort in Pompeji beobachtbaren Evidenz. Diese Diskrepanz zwischen dem überlieferten Mythos und den konkreten Bildern wirft Fragen auf über die Bedeutung und Interpretation der Darstellungen von Hermaphroditus in der antiken Gesellschaft von Pompeji. Spannend ist dabei, dass Zuchtriegel auf Evidenz aus dem Leben zurückgreift und die tradierte Sichtweise links liegen lässt.

Zuchtriegel bezeichnet das als «Seltenheitswert des Alltäglichen», es sei sein persönlicher Zugang zur Archäologie und zu Pompeji. Normalerweise sind aus der Antike nur Texte, Inschriften, Bauten und Gräber einer winzigen Minderheit von reichen und mächtigen Menschen überliefert. «So kommt es, dass sich der Blickwinkel der Elite wie eine Leinwand über die antike Realität schiebt, auf die eine ganz bestimmte Vision der Wirklichkeit projiziert wird. Zum Beispiel stammt das, was wir über das Leben antiker Sklaven wissen, fast ausnahmslos aus Texten von Sklavenbesitzern oder aus Inschriften einer kleinen Gruppe reich gewordener Freigelassener. Und das, was wir über das Leben antiker Frauen wissen, stammt zu über 90 Prozent aus der Feder von Männern.» Das Besondere an Pompeji seien darum weder seine Tempel noch das Amphitheater, anderswo gebe es grössere und schönere. «Vielmehr ist es das Gewebe aus Werkstätten, Wohnungen, Schenken, Absteigen, Läden, Bädern und Bordellen, das Pompeji zu einem einzigartigen Ort für die Archäologie macht.» Also der seltene Zugang zum Alltag in der Antike.

Diesen Alltag schildert Zuchtriegel in seinem Buch mit grosser Leidenschaft und Akribie. Er zeigt dabei immer wieder, dass wir uns von der Antike wohl ein falsches Bild machen, wenn wir nur an Cäsar und Cicero denken. Sklaven, Handwerker, einfache Soldaten haben ganz anders gelebt. Die Zahl der Menschen in Pompeji war viel höher als bisher gedacht. Die Menschen in der Antike lebten wohl eher so, wie sie es in den Armenvierteln von Neapel heute noch tun: unter engen und prekären Verhältnissen. Das Buch bietet einen spannenden Rundgang durch diesen Alltag in der Antike. Die Begeisterung, die Zuchtriegel für sein Thema spüren lässt, ist ansteckend.

Gabriel Zuchtriegel: Vom Zauber des Untergangs. Was Pompeji über uns erzählt. Propyläen, 240 Seiten, 40.90 Franken; ISBN 978-3-549-10048-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783549100486

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