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Vom Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns
Paul Watzlawick hat sich als Psychotherapeut und als Kommunikationswissenschaftler ein Leben lang der Relativität dessen gewidmet waren, was wir Wirklichkeit nennen. Für ihn war klar, dass es eine einzige, objektive Wirklichkeit nicht gibt, sondern dass die Menschen sich Realität durch Interaktionen konstruieren. Besonders kompliziert wird das, wenn es um die subjektive und individuelle Interpretation des sozialen Geschehens geht. Nicht nur nach einem Unfall unterscheiden sich die Zeugenaussagen oft auf frappierende Weise: Jeder von uns nimmt ein Geschehen auf seine Weise wahr und interpretiert es anders. So subjektiv diese Sicht und Interpretation der Wirklichkeit sein mag, so objektiv und damit messbar sind die soziale, geschlechts- und kulturspezifischen Ursachen dafür. Paul Watzlawick hat als Erster auf diese Brüchigkeit der Wirklichkeit im Allgemeinen und die Relativität der Wirklichkeitsinterpretationen der Menschen im Besonderen aufmerksam gemacht. Dieses kleine Buch macht zwei thematisch aufeinander bezogene Vorträge verfügbar, die Paul Watzlawick im Wiener Rathaus gehalten hat. Sie fassen die Sicht von Paul Watzlawick auf anregende Art und Weise zusammen.
Paul Watzlawick zeigt in diesem Buch ebenso verblüffend wie nachvollziehbar, dass für uns Menschen die Welt nicht einfach aus einer persönlichen Innenwelt und einer allen zugänglichen Aussenwelt besteht. Wir alle sind letztlich eingesperrt in unseren Wahrnehmungen. Und das heisst: Es gibt nur eine Innenwelt. Doch halt: Ganz so einfach ist es nicht. Es gibt laut Watzlawick zwei Wirklichkeiten. Da ist erstens die Wirklichkeit, die uns unsere Sinnesorgane vermitteln. «Ich möchte gar nicht darauf eingehen, dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit über unsere Sinnesorgane das Ergebnis einer fantastisch-komplexen Konstruktion unseres Zentralnervensystems ist», warnt Watzlawick. In der Realität gibt es zum Beispiel keine Farben, sondern nur elektromagnetische Wellen. «Wir sehen die Farben lediglich deswegen, weil wir Augen haben.» Genau genommen gibt es auch die elektromagnetischen Wellen nur, weil Physiker Apparate gebastelt haben, die auf etwas ansprechen, das sie dann «elektromagnetische Wellen» nennen.
Die direkten Wahrnehmungen durch die Sinnesorgane ist die erste Wirklichkeit, oder, wie Watzlawick es nennt: die Wirklichkeit erster Ordnung. Darauf folgend gibt es die Zuschreibung von Sinn, Bedeutung und Wert an diesen Wahrnehmungen. Das ist die Wirklichkeit zweiter Ordnung. «Und es gibt keine objektive Klarlegung oder Festlegung der Richtigkeit dieser Zuschreibung», betont Watzlawick. «Aber wir alle haben die merkwürdige Idee, dass die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, die Welt in ihrem objektiven So-Sein widerspiegelt. Und wir legen uns nicht darüber Rechenschaft ab, dass wir es sind, die dieser Welt Bedeutung zuschreiben.»
Watzlawick nimmt diese Unterscheidung besonders radikal vor, aber er ist nicht der erste, der darauf aufmerksam macht. Er führt gewichtige Zeugen an. So schrieb schon Immanuel Kant: «Aller Irrtum besteht darin, dass wir unsere Art, Begriffe zu bestimmen oder abzuleiten oder einzuteilen, für Bedingungen der Sachen an sich halten.» Und Karl Jaspers sagte: «Das Unheil menschlicher Existenz beginnt, wenn das wissenschaftlich Gewusste für das Sein selbst gehalten wird, und wenn alles, was nicht wissenschaftlich wissbar ist, als nicht existent gilt.» Albert Einstein schliesslich sagte 1926: «Es ist unmöglich, nur beobachtbare Grössen in eine Theorie aufzunehmen. Es ist vielmehr die Theorie, die entscheidet, was man beobachten kann.»
Das hat dramatische Folgen vor allem für Watzlawicks eigenes Fachgebiet. In der Medizin mag es vernünftig sein, von einem normalen Funktionieren des menschlichen Körpers zu sprechen. In der Psychiatrie dagegen wird es schwierig. Watzlawick schreibt: «Das Fehlen einer klaren Definition der Normalität, die auf einem so anfechtbaren Grundsatz aufbaut, macht es der Psychiatrie unmöglich, Pathologien zu definieren.» Und weiter: «Im Falle der Psychiatrie haben wir es mit dem Wesen Mensch zu tun. Und was der Mensch ist, ist letzten Endes eine metaphysische Frage, für die es keine Beweise gibt.»
Paul Watzlawick: Vom Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns. Picus Verlag, 72 Seiten, 18.50 Franken; ISBN 978-3-7117-3032-9
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783711730329
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