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Versteckte Köder

Publiziert am 19. März 2024 von Matthias Zehnder

Aus Sicht der Evolution stecken wir mit einem Bein noch in der Steinzeit. Für Jahrtausende waren die kritischen Erfolgsfaktoren für die Menschen Sexualität, Nahrung und gute Sozialstrukturen in einer Gemeinschaft oder Familie. In Zeiten von Hunger und Knappheit steigerten ein paar Kilo zu viel die Überlebenschancen. «Sich ständig verkürzende Innovationszyklen und weltweit eingeschleuster Content treffen heute auf Individuen, deren Körper, Psyche und Sinne seit Jahrtausenden durch evolutionär bewährte Erfolgsrezepte programmiert worden sind», schreibt Heike Melzer in ihrem Buch über die Macht der Belohnungsreize. Diese archaische Programmierung unseres Körpers und Geistes wird heute von immer stärker werdenden Belohnungsreizen und Informationen überflutet, die unsere Stoffwechselvorgänge im Gehirn und Körper an die Grenze bringen – und darüber hinaus. «Nicht der Mangel macht uns heute zu schaffen, sondern der Überfluss und die damit verbundenen Entscheidungen, was wichtig und was unwichtig, was wahr und was falsch und was gesund oder ungesund ist», schreibt Melzer. «Durch ein Zuviel an Belohnungsreizen stehen wir heute vor der Qual der Wahl, die richtigen Entscheidungen zu treffen, die uns nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig glücklich und zufrieden machen. Allein schon der Einkauf in einer der gängigen Supermarktketten kann zum Spiessrutenlauf werden.» Die Folge: Epidemische Fettleibigkeit. Auch Dating und Sexualität seien schon lange keine Mangelressource mehr. «Heute stehen wir an einem All-inclusive-Buffet sexueller Vielfalt, das unsere kühnsten Vorstellungen übertrifft und uns an der ein oder anderen Stelle zu überfordern droht.»

Wer Angeln will, braucht Köder. Jeder Fisch reagiert impulsiv auf bestimmte Schlüsselreize, deshalb schnappen Raubfische blind nach jedem Blinker. Auch wir Menschen verfügen über Schlüsselreize. Das Kindchenschema zum Beispiel: Es löst positive Gefühle aus. «Dieses Wissen machten sich die Entwickler der Charaktere von Mickey Mouse, Pikachu, Teletubbies, Minions, Hello Kitty und Winnie Puuh zu eigen», schreibt Melzer. Und viele Konsumgüter mehr, etwa der niedliche Mini-Cooper mit seinen zwei kugelrunden Scheinwerfern. Im Internet heissen Köder ganz wörtlich so: «Clickbait». Köder, die zum Klicken verführen, weil etwas versprechen, auf das die Benutzer impulsiv reagieren. Der Reiz wird von ganz bestimmten Triggern ausgelöst. Das sind Reize, die uns manipulieren: «Trigger versuchen an Emotionen zu koppeln, die Energie aktivieren, um eine ‹Hin-zu-Bewegung› auf den Köder auszulösen und uns zum beherzten Anbeissen zu veranlassen. Dabei zielen die Trigger weitestgehend auf unbewusste Mechanismen.

Trigger versuchen an Emotionen anzudocken, die Energie aktivieren, um eine Bewegung auf den Köder hin auszulösen und uns zum beherzten Anbeissen zu bringen. Dabei zielen die Trigger weitestgehend auf unbewusste Mechanismen. Ein guter Köder kombiniert dabei das Versprechen einer grossen Belohnung mit hoher Verfügbarkeit, sofortigem Genuss und Neuigkeit, Innovation und Bewegung, die unwillkürlich unsere Aufmerksamkeit weckt. «Ein guter Fischer kennt den Speiseplan und das Reaktionsverhalten seiner Fische, um sie an die Angel zu bekommen, und richtet sich in seinem Handeln strikt danach aus.»

Das Problem ist, dass wir nicht mehr durch die Steppe streifen, sondern vor Bildschirmen sitzen und die Trigger sich rasch wiederholen. «Je häufiger die Wiederholung, je konstanter die Reaktion auf den Trigger und je stärker eine Verknüpfung mit einer Belohnung stattfindet, desto höher ist die Chance zur Ausbildung einer Gewohnheit», schreibt Melzer. Die ständige Repetition gräbt die Gewohnheit geradezu ins Hirn ein. Es entwickeln sich strukturelle Gewohnheitsbahnen. «Diese ermöglichen im günstigsten Fall virtuosen Musikern, ohne Noten die komplexesten Musikstücke fehlerfrei vor dem Publikum abzuspulen», schreibt Melzer. «Im negativen Fall bahnen diese Repetitionen schlechte Gewohnheiten, die an selbstschädigende und kaum noch zu korrigierende Verhaltensweisen gekoppelt sind.»

Ein physiologischer Grund, warum die Reiz-Mechanismen so heftig funktionieren, ist Dopamin: Bestimmte belohnungsassoziierte Verhaltensweisen, etwa der Gewinn bei einem Glücksspiel, Likes in soziale Medien oder ein Schnäppchen beim Shoppen können zu einem Dopaminanstieg im Belohnungssystem führen. «Das durch Verhalten ausgelöste positive Gefühl von Belohnung, Glück und die damit in Zusammenhang stehenden Rahmenbedingungen werden im Gehirn neuronal verknüpft, um so nachhaltig im Gedächtnis verankert zu bleiben. Später sind sie die Trigger, die dazu führen, dass die belohnungsassoziierten Reize zu einer Wiederholung eines spezifischen, mit der Belohnung assoziierten Verhaltens führen», schreibt Melzer. Mit der Zeit entwickele sich ein Bypass, vorbei am steuernden Präfrontalen Kortex: Aus gelegentlichen Belohnungskicks entwickeln sich Gewohnheiten, der Mensch ist seinen Reizen ausgeliefert. Er ist gefangen.

Wie kann man sich aus dieser Gefangenschaft befreien? Melzer sagt, dass wir versuchen müssen, die Herrschaft in unserem Kopf wieder an uns zu reissen: Das bedarf «Massnahmen zur Stärkung der höheren Exekutivfunktionen des Gehirns.» Dafür hat sie vier Empfehlungen: Das Wissen stärken, damit blinde Flecken in eigener Sache frühzeitig aufgedeckt und Zusammenhänge verstanden werden. Mehr und besser Schlafen, weil ein erholsamer Schlaf  Körper und Psyche in gute Laune versetzt und es so einfacher wird, Belohnungsaufschub auszuhalten. Achtsamkeit, Meditation, Intuition und ein Anti-Autopilot-Tagebuch erhöhen die Selbstwirksamkeit und Steuerungsfähigkeit. Zudem lohnt es sich, in ein autarkes analoges Sein zu investieren, damit dies ein Gegenpol zu dem kreierten digitalen Schein darstellt. Wissen, Schlafen, Meditieren und in der realen Welt leben. Damit schaffen wir es vielleicht, uns von den Haken der omnipräsenten Konsumgesellschaft loszureissen.

Heike Melzer: Versteckte Köder. Die Macht der Belohnungsreize und wie wir uns davon befreien. Hanser, 56 Seiten, 32.90 Franken, ISBN 978-3-446-27969-8

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446279698

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