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Väter und Töchter

Publiziert am 6. Mai 2021 von Matthias Zehnder

Väter sind etwas Spezielles, vor allem für die Töchter. So hat das die Kultur und auch die Psychologie traditionell gesehen. Bei den Römern genoss der pater familias aufgrund seiner Priesterfunktion sogar eine sakrale Verehrung. Er war quasi König, Richter und Priester. In den 1950er-Jahren entwickelte der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan den Begriff des «nom-du-père», der Name-des-Vaters. Damit mein er eine abstrakte, übergeordnete Autorität, die verinnerlicht wird und das eigene Fühlen und Handeln beeinflusst. Es ist zwar nur eine gedachte Autorität, aber sie ist männlich und sie lehnt sich an den realen Familienvater an. Ordnung entsteht laut Lacan durch Unterordnung. «In der traditionellen Familie erschien diese Ordnung als Naturgesetz», schreibt Susann Sitzler in ihrem klugen Buch über Väter und Töchter. Alle grossen Weltreligionen fordern Respekt und Verehrung der Eltern durch die Kinder. Fast immer in Form strengen Gehorsams: «Der Vater scheint in dieser traditionellen Sicht gar keine andere Existenzmöglichkeit zu haben als die des Alleinherrschers, der die komplette Verantwortung trägt und darum vergöttert werden muss.»

Doch diese Zeiten sind vorbei. Das Selbstverständnis der Väter hat sich stark gewandelt. Vom römischen Alleinherrscher als «König, Richter und Priester» ist wenig übrig geblieben. Aber ist das wirklich gut? «Töchter brauchen ihren Vater, um ihn verehren zu können.» So lautet arg verkürzt, eine Grundannahme der Psychoanalyse. «Verehren müssen sie ihn, um ein Gegengewicht zu einer übergrossen Nähe zur Mutter auszugleichen, die durch die biologische Verbindung während Schwangerschaft sowie die traditionelle Fürsorgerolle im Säuglingsalter entstanden ist», schreibt Sitzler. Dass an der These etwas dran sein könnte, ist vor allem dann bemerkbar, wenn der Vater einer Tochter fehlt. Sitzler bezeichnet das als «Vaterentbehrung» – und diese kann zerstörerische Wirkung haben. Ein Vater hat offenbar zwei sehr verschiedene Aufgaben im Leben seiner Kinder. Eine reale und eine abstrakte. «Als Vater aus Fleisch und Blut muss er erreichbar und zugewandt sein. Dadurch bekommt ein Kind die Gewissheit, dass ihm ein Platz in der Welt zusteht», schreibt Sitzler.

Für Mädchen komme noch eine zusätzliche Erfahrung dazu, die der Vater ermöglicht: «Er gibt das erste und wichtigste Beispiel dafür, dass man dem anderen Geschlecht vertrauen kann.» Wenn der reale Vater diese Aufgaben nicht erfüllen kann, droht seine abstrakte Bedeutung in den Vordergrund zu treten: «Dann gewinnt das Bild des Übervaters an Gewicht, ohne den eine Ordnung nicht stabil genug bleibt.» Susann Sitzler ist ein spannendes, zuweilen auch verstörendes Buch gelungen. Als Vater liest man die Sätze über die Väter als Könige, Richter und Priester mit Befremden – und fühlt sich zugleich ertappt. Die Sachbuchteile über Väterforschung und das Verhältnis der Väter zu ihren Töchtern sind im Buch unterbrochen durch persönliche Erfahrungsberichte. Das erschliesst die theoretischen Teile über Gefühle und praktische Erfahrungen. So lotet Susann Sitzeler auf ganz unterschiedliche Weise aus, was Väter heute für ihre Töchter sein können – und umgekehrt. Spannend. 

Susann Sitzler: Väter und Töchter. Ein Beziehungsbuch. Klett-Cotta Verlag, 304 Seiten, 23.90 Franken; ISBN 978-3-608-98220-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783608982206

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